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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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jung, mit Wut im
Bauch und Gerechtigkeitsgefühl. Wollte all diese schrecklichen, unmenschlichen
Verbrechen aufklären. Mich wohl auch um die angekohlten Papierreste kümmern,
eruieren, wer wo gewesen war in jenem regnerischen Augenblick, da draußen die
Postbotin auf dem Fahrrad vorbeifuhr mit einer Plastiktüte auf dem Kopf, wollte
rauskriegen, wer die Äste abgebrochen hatte an dem alten Erdbeerbaum, der vor
dem Fenster des Bibliothekszimmers blühte! Meinst du, mir wäre es nicht darum
zu tun gewesen, die ganze Insel von dem Gesindel zu säubern oder wenigstens
unser nettes kleines Zarjowokokschaisk, die Schweine einzufangen, die Brut zu
ersäufen? Aber dann bekam ich schlüssig erklärt, warum zu viel Eifer schadet. Und
dass es gar keine Rolle spielt, wer der Mörder war. Wen interessiert das, wenn
doch ohnehin jeder weiß, dass es sich um einen durchschnittlichen,
erbärmlichen, nichtswürdigen Menschen handelt! Wenns nicht Petrow war, dann
eben Sidorow. Hör zu, Tolja, ich war Soldat und hab in der Wüste gedient, da
haben wir aus Langeweile Skorpione gefangen. Man fing sie und warf sie in einen
Ring aus Feuer. Wir Idioten hofften mit anzusehen, wie sie Selbstmord begehen -
sich den Giftstachel ins eigene Genick setzten. Aber nein, kein einziger kam
auf die Idee, alle wollten sie leben bis zum Letzten, lieber verbrannten sie
bei lebendigem Leibe. Verstehst du? Und ich verstand immer noch nicht. Ich hab
Blut, Schmerz und Tod zur Genüge gesehen, sagte ich. Ich hab auch selbst
getötet, Schuldige und Unschuldige. Mich kann keiner mehr schrecken. Wenn sie
mich umbringen - von mir aus. Dafür muss ich mich meines Lebens nicht schämen.
Da hat er mich angebrüllt: Ein Küken bist du! Ich dagegen hab eine Frau und
drei Töchter zu Hause! Das Kostbarste auf der Welt! Dich kann keiner mehr
schrecken, sagst du? Halbstarkes Gerede! Halte du erst mal das Händchen deines
eigenen Kindes in der Hand, dann sprechen wir uns noch mal! Danach griff er
sich ans Herz. Ich stürzte zu ihm hin, er krächzte: Verpiss dich, Rotznase! Wir
riefen seine Frau an, sie kam, wir brachten ihn gemeinsam nach Hause. Dort
legten wir ihn aufs Sofa. Warten Sie, sagte sie zu mir, gehen Sie nicht gleich
wieder, ich koche uns noch eine Tasse Tee. Die Kinder waren nicht zu Hause: die
Ältere in der Uni, sie studierte Informatik, die jüngeren noch nicht aus der
Schule zurück. Tomatensetzlinge standen in abgeschnittenen Milch-Tetrapaks auf
den Fensterbänken, an den Wänden hingen Fotografien. Sie fing an, mir von all
den Verwandten zu erzählen. Sein Vater war Priester gewesen, bis er krank wurde
und erblindete; der Sohn musste ihn lange Zeit verleugnen und gab in Fragebögen
an, sein Vater wäre Kriegsinvalide; immer musste er fürchten, dass die Sache
ans Licht kam. Seine Großmutter mütterlicherseits hatte vier ihrer Kinder
begraben - Söhne allesamt; dich hab ich anstelle von vieren, sagte sie zu ihm.
Im Krieg, während der Zeit der Evakuierung, bewahrte ihn seine Mama vor dem
Verhungern - sie war als Melkerin untergekommen und stahl Milch für ihn, die
sie in einer am Bauch verborgenen Wärmflasche transportierte. Vor ihrem Tod,
schon als sehr alte Frau, mahnte sie ihn: Begrab mich bloß nicht mit den
Ringen, nimm sie ab, die werden sowieso geklaut, verkauf sie lieber! Und Daddys
Frau selbst, als sie ihre Jüngste stillte, hatte so viel Milch, dass sie immer
mit dünnem blauem Strahl ein Glas damit füllte, das deckte sie mit Mull ab und
rief aus dem Fenster nach den Älteren, die wollten die Milch aber nicht
trinken, sie war ihnen zu warm und zu süß; also trank die Mutter sie selbst, damit
das gute Zeug nicht verkam.
    Frage: Und was
wurde aus dem wiederaufgenommenen Fall?
    Antwort: Die
Selbstmordversion wurde fallen gelassen. Dafür beschuldigte man nun die Frau
des Opfers - angeblich hätten die beiden in Scheidung gelegen, und er habe ihr
nichts überlassen wollen. Sonst ziehen sich solche Fälle oft über Monate hin,
und die Leute schmoren in der U-Haft, aber hier ging alles ganz schnell:
Verhandlung. Urteil. Straflager.
    Frage: Und die
Zeugen? Es gab doch Zeugen?
    Antwort: Die gab
es, aber alle sind ausgestiegen. Hätten Sie Lust, Zeuge in so einer Sache zu
sein - mit allen Konsequenzen?
    Frage: Ich weiß
nicht.
    Antwort: Da sehen
Sie.
    Frage: Wie ging
es weiter?
    Antwort: Ich ging
nach Hause.
    Frage: Wo eine
kleine, schwache Frau auf Sie wartete. Und Sie, groß und stark, hatten es
nötig, von ihr gehalten zu werden?
    Antwort:

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