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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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Feuerschein
in der Ferne und ging nachschauen, wer da war. Erst vermutete ich ein
Zigeunerlager, dann dachte ich, wo sollen hier Zigeuner herkommen, wohl eher
Flüchtlinge. Fuhrwerke standen da und Pferde. Ein großes Camp. Es war spät,
wahrscheinlich schliefen schon alle. Aber nein, am Feuer saß noch wer. Ich ging
näher. Vom Aufflackern des Feuers wurde der schwarze Menschenschatten davor
kürzer. Ich ging noch näher und staunte: Da saßen mehrere Personen, die
angezogen waren wie alte Griechen. Sie sprachen auch mit fremden Zungen.
Bestimmt wurde hier ein Film gedreht. Das kommt in letzter Zeit häufig vor: Bei
denen ist alles teuer, hier ist es billig zu haben. Da kommen sie eben her.
    Frage: Aber Raum
und Zeit sind brüchig, verschlissen, hinfällig. Die bleiben irgendwo hängen -
und sei es an Ihrem Brombeerzweig -, schon reißt etwas ab. Und aus solchen
Löchern kann wer weiß was gerutscht kommen, selbst alte Griechen passen da
hindurch.
    Antwort: Kann sein.
Keine Ahnung.
    Frage: Wurden Sie
bemerkt?
    Antwort: Einer
sprang auf, als er meine Schritte hörte, spähte in meine Richtung, konnte mich
aber im Dunkeln nicht sehen. Ich ging meiner Wege. In dieser Nacht begriff ich,
was zu tun war. Alles hing an dem Abzählreim. Ich musste ihn anhalten. Oder wie
soll ich sagen... Ich musste mich quer stellen vor ihm.
    Frage: Sie
wollten verhindern, dass die Negerlein dem Haifisch begegneten? Vier kleine
Negerlein, die sahen einen Hai, eins kam zu nah, der Hai macht' schnapp!, da
waren's nur noch drei?
    Antwort: Ja, ich
musste sie aufhalten. Damit das Ganze zum Stillstand kam. Damit alles anders
wurde. Damit ich dieser Frau in die Augen schauen konnte. Damit ihre Tochter
freikam. Damit man nichts und niemanden zu fürchten hatte. Damit das Leben
einfach und gut war.
    Frage: Sie
wussten aber doch, dass eins der Negerlein den Abzählreim schon einmal hatte
anhalten wollen - ganz wie der Text es vorschrieb...
    Antwort: Fünf
kleine Negerlein sahn den Gerichtsvollzieher, das eine hat er mitgenommen, da
waren's nur noch vier!
    Frage: ... und
deswegen vor Gericht kam und ins Lager, dort wurde es fertiggemacht, weil es
ein Bulle war.
    Antwort: Ja.
Ebendarum musste der Abzählreim gestoppt werden.
    Frage: Aber wie
wollten Sie das anstellen?
    Antwort: Ganz
einfach. Ich musste mich nur auf den Platz stellen und sagen: Ich bin kein
Härchen in deinem Fell!
    Frage: Ja,
aber...
    Antwort: Unterbrechen
Sie mich nicht! Ich fuhr also mit dem Zug zurück. Meine Mitreisenden im Abteil
aßen die ganze Zeit: Auf einer Zeitung lagen angeknackte Eier, eine geplatzte
Tomate, an der Brotkrumen klebten, Salz in einer Streichholzschachtel. Und von
dieser auf dem kleinen Tisch ausgebreiteten Zeitung, die feucht und speckig
war, las jemand einen Artikel vor, aus dem hervorging, dass unsere Insel zwar
den Spitzenplatz in der Anzahl der Abtreibungen pro Kopf der Bevölkerung
einnimmt, in den Gefängnissen aber keine der Inhaftierten auf ihr Kind verzichtet
- alle tragen es aus, alle sind scharf darauf, schwanger zu werden, von einem
Wärter oder sonst wem, unbefleckte Empfängnis sozusagen. Ein Mann, der mir
gegenübersaß, sagte, während er eine Kartoffel in das Häufchen feuchtes Salz
tunkte, das sich genau auf diesem Artikel, auf besagten Frauen also, befand,
ein Kind sei für die ja nur ein Mittel zur Erhöhung der Verpflegungsration,
arbeiten müssen sie dann auch nicht mehr, und vor allem gebe es bei
Mutterschaft eine Aussicht auf Amnestie, da seien sie immer als Erste dran. Und
dann kämen die aus dem Lager, und die Mehrzahl dieser Mütter, so die Statistik,
würden ihre Kinder in der Freiheit verstoßen. Danach begann er von seinem
Freund zu reden, einem Geistlichen, der habe eine Hündin mit menschlichen Augen
besessen. Der reinste Mensch, nur eben mit Fell. Und aus heiterem Himmel habe
die ihren Welpen die Köpfe abgebissen, da habe der Pope sie erschossen. Er
nippte vom Tee und sagte, aus dem Fenster blickend: Was soll man von einem Land
erwarten, in dem Mütter ihre Kinder töten? Gerade fuhr der Zug langsam über
eine Brücke; unten auf dem zugefrorenen Fluss trampelten zwei - er und sie -
Buchstaben in den Schnee, riesengroß, damit man sie lesen konnte von Weitem,
aus den durchkommenden Zügen, so wie jetzt gerade aus unserem Fenster.
    Frage: Und was
haben sie in den Schnee getrampelt? Welche Worte?
    Antwort: Das weiß
ich nicht. Sie hatten gerade erst begonnen, da war der Zug schon vorbei.
    Frage: Aber das
ist doch

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