Schischkin, Michail
wichtig!
Antwort: Ich konnte
schließlich nicht den Zug anhalten deswegen!
Frage: Na schön.
Sie kamen also zurück, stiegen in die Straßenbahn, fuhren zum Haus am Platz.
Antwort: Ich kam
zurück, stieg in die Straßenbahn, fuhr zum Haus am Platz. Von der Haltestelle
kommend, sehe ich schon von Weitem, dass Daddy am Fenster steht und winkt. Er
ruft etwas, das nicht zu hören ist, klopft mit den Fingerknöcheln gegen die
Scheibe, gestikuliert. Er hat gesehen, dass ich ohne Erlaubnis zurückgekehrt
bin, und weiß Bescheid. Ich habe die Mitte des Platzes erreicht, da kommt er
aus dem Portal gerannt und schreit: »Anatoli! Was fällt dir ein! Sei still!
Tu's nicht! Du änderst nichts, reißt dich nur selber rein!« Er fegt die Stufen
herab, der Eingang liegt genau unter den Gerichtsfenstern. Und just in diesem
Augenblick fliegt aus einem der Fenster eine massive Uhr und trifft ihn voll.
Ein Bär aus weißem Marmor, das Zifferblatt auf dem Bauch.
Frage: The big
bear.
Antwort: Genau. Ich
rannte hin. Der Alte atmete noch, genauer gesagt, er röchelte, beinahe ein
Pfeifen. Und schaute mich an. Der Blick wollte sagen: Ich weiß Bescheid, aber
zu reden hat keinen Zweck mehr. Das Begräbnis fand erst am Dienstag statt -
wegen der Obduktion und weil dann Wochenende war. Es kamen viele, alles Leute
von uns, die Chefs waren da und auch ein paar Veteranen. Die Witwe und die
drei Töchter mit schwarzen Kopftüchern. Es war bitterkalt, darum trugen sie
Pelzmützen, darüber die Tücher. Auch die Männer standen alle in Mützen mit
Ohrenklappen da, oder besser gesagt, sie standen nicht, sondern traten und
hüpften auf der Stelle, um sich aufzuwärmen. Der Sarg rutschte aus den Seilen
und kam senkrecht zu stehen, sodass er noch einmal herausgezerrt und wieder
hineingesenkt werden musste. Das Grab war schon zuvor ausgehoben worden, der
starke Frost hatte erst letzte Nacht eingesetzt, alles war vereist, es konnte
nicht zugeschaufelt werden. Man versuchte die Erde mit Spaten und Brecheisen zu
lockern - das Grab konnte doch unmöglich offen bleiben. Daddy zeigte noch
aufgebahrt Haltung wie zur Parade. Eine Frau neben mir - keine Ahnung, wie sie
zu ihm stand - bemerkte seufzend: Ach, Pascha, du bist auch im Sarg noch fesch.
Nicht wie ein Toter, wie ein Bräutigam schaust du aus! Während ich ihn
betrachtete, fiel mir eine Sendung im Fernsehen ein, in der es geheißen hatte,
dass man die Toten früher sitzend begrub: in Embryonalstellung, die Beine zur
Brust gezogen, wie um auf eine Wiedergeburt zu verweisen. Das Grab als
Gebärmutter. Die Grablegung eine Kopulation mit der Erde, sie wird durch den
Menschen befruchtet. Daddy war der Erde Bräutigam, darauf lief es hinaus. Was
für uns eine Beerdigung war, das war für ihn eine Hochzeit. Darum wäscht man
die Toten und staffiert sie aus, als ginge es ans Heiraten. Selbst der kleine
Kranz auf Daddys Haupt erinnerte an die Krone im orthodoxen Trauungsritual. Und
besagte Griechen in früherer Zeit hatten die Vorstellung, dass die Toten nach
ihrer Vermählung in den Gräbern fortlebten, sich von dem ernährten, was man
ihnen brachte, den Wein tranken, den man über ihnen ausgoss. Bei uns heutzutage
ist das nicht viel anders: Man muss nur einmal auf die Gräber nebenan schauen,
was da so alles hinters Kreuz gelegt wird: Äpfel, Bananen... An der Stelle
besann ich mich. Wo bin ich mit den Gedanken, mein Gott! Hier stehen drei junge
Frauen, deren Vater ich auf dem Gewissen habe...
Frage: Und dann?
Antwort: Hab ich
beim Leichenschmaus einen Wodka auf seinen Seelenfrieden gekippt, dazu einen
Pfannkuchen gegessen. Und bin in die Straßenbahn gestiegen. Zum Platz. Da stieg
ich aus und sagte, was zu sagen war. An der Haltestelle. Ich bin kein Härchen!,
hab ich gesagt.
Frage: Und was
geschah?
Antwort: Alles wie
im Abzählreim vorgesehen. Gericht. Urteil. Lager.
Frage: Der
Richter hatte einen roten Fleck an der Stirn, sein Talar war ein purpurner
Duschvorhang und die Perücke ein graues Wollknäuel?
Antwort: Woher
wissen Sie das nun wieder?
Frage: Ich habe
geraten. Und die Verhandlung war ordnungsgemäß? Ohne Vorkommnisse?
Antwort: Alles
mustergültig.
Frage: Und was
hat er gesagt, der in dem Duschtalar?
Antwort: Was kann
ein Richter schon sagen? Er sagte, jede Heimsuchung läutere die Seele,
verschärftes Leid könne sie nur stählen, und die Wahrheit sei sowieso nicht zu
erschauen, dabei erblinde man nur, eigentlich wollten die Menschen füreinander
das Beste und brächten es doch nicht
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