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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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treten. Ein Tritt ist erlaubt. Den Büßer mit Fäusten zu
berühren wäre erniedrigend, die Füße sind gerade gut genug. Und draußen auf dem
Platz darf keiner etwas vom Boden aufheben. Hat man etwas fallen gelassen, hat
man Pech gehabt. Aufheben geht nicht, denn dort waren ja die Büßer am Fegen
gewesen. Gehst du in den Speisesaal und lässt dort versehentlich deinen Löffel
fallen, dann ist dieser Löffel verloren. Und pass ja auf, dass dir keine
»Verpestung« unterläuft, das ist das Wichtigste. Wenn dir dein Essnapf in der
Kammer zu Boden fällt, dann gilt er als verpestet und ist hin. Man kann danach
unmöglich aus ihm essen. Oder wenn beim Essen irgendein Bissen runterfällt,
muss man gleich sagen: Zum Glück auf'ne Zeitung gefallen!, obwohl da natürlich
gar keine Zeitung ist.
    Frage: Aber Sie
sind doch kein kleiner Junge mehr. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass hinter
alledem ein tieferer Sinn steckt. Hygiene! Die ist lebensnotwendig. Und gelebt
wird auf der Insel überall. Also alles ganz natürlich...
    Antwort: Sag ich
doch. Darum belegen sie die Pritschen gleich neben der Tür, dann ist die
Gefahr, dass sie etwas verpesten, geringer. Auch wenn es natürlich trotzdem
unweigerlich dazu kommt. Nehmen wir nur die Pritschen, auf denen Büßer
schlafen. Ist einer von denen eines Tages nicht mehr da, entlassen oder verlegt
oder was weiß ich, dann steht die Pritsche leer; manchmal sehr lange. Obwohl
die Lagervorschriften besagen, dass unbelegte Pritschen wegzuräumen und ins
Magazin zu schaffen sind. Die Frage ist nun: Sind diese Pritschen immer noch
»verpestet«, nachdem sie eine Weile im Depot gestanden haben? Daran scheiden
sich die Geister. Denn auf diesem Wege kann jeder beliebige Häftling an sie
geraten. Außerdem wird endlos darüber gestritten, ob Eisen verpestet sein kann
oder nicht... Einmal musste ich mich übergeben und fand einen Büßer, der die
Kotze für mich wegmachte. Danach beschloss ich aus purer Menschlichkeit, dem
Mann das Leben etwas leichter zu machen; gab ihm hin und wieder ein bisschen
Brot oder was zu rauchen. Wobei das ganz klar seine Grenzen hatte: Niemals
hätte ich ihm dergleichen in die Hand gegeben. Ich legte es auf den Boden und
sagte: Da hast du. Und plötzlich sah ich diese Ergebenheit in seinen Augen.
Absolut hündisch.
    Anders
lässt es sich nicht sagen. So schaut ein geprügelter Hund, wenn man ihn
hinterher wieder streichelt. Na he!, hieß es gleich, da hast du ja wen gefunden
zum Bedauern. Sieh dich vor! Hund bleibt Hund. Muss bloß einer drauf kommen,
ihm zu sagen, er soll dich im Speiseraum anspucken - dann hast du den Salat...
Was wahr ist, ist wahr. Auch unter den Parias gibt es Hierarchien. Und alle
fürchten den, der bei den Büßern der Bestimmer ist. Wenn der dich auf dem
Kieker hat, dann gehörst du schon morgen dazu. Dazu muss er nur einem seiner
Fußabtreter befehlen, dich vor aller Augen zu küssen. Dann hilft es nicht,
diesen Fußabtreter hinterher zu verprügeln, in den Dreck zu treten, ihm die
Knochen zu brechen - von nun an bist du selber einer.
    Frage: Sagen Sie,
worauf kommt es dort am meisten an?
    Antwort: Worauf es
ankommt? Ach, das ist dort nicht viel anders als hier: Die Familie ist das
Wichtigste! Das sind ja im Grunde Menschen wie Sie und ich. Du brauchst in der
Welt einen Ort, wo du dazu gehörst, wo du gemocht wirst. Auch dort lebt man
also familiär, aus einem Topf. In der Familie beschützt man sich gegenseitig;
ist einer krank, wird er gepflegt; gegebenenfalls wird er aus dem Strafarrest
in Empfang genommen. Die Familie ist verpflichtet, Anschaffungen für dich zu
tätigen, dich beispielsweise mit Tee zu versorgen. Der Mensch braucht Wärme.
Ein Lächeln. In der Zone ist Lächeln verboten. Ein Lächeln gilt als versuchte
Speichelleckerei. Kommt dir jemand mit einem Lächeln, dann wirst du ihn
instinktiv abweisen, weil du eine Tücke dahinter vermuten musst, eine Infamie.
Und dabei ist es so wichtig, einmal jemanden anzulächeln! Du liegst nachts wach
und denkst an ein Spiel, das du als Kind, wenn du nicht einschlafen konntest,
mit dir selber spieltest. Erst mal eine Hand zum Wärmen unter die Decke, die
andere greift an etwas Kaltes. Und dann beginnt das Spiel: Es waren einmal zwei
Männlein, die wanderten auf Fingerbeinen über Kniehügel, durch
Deckenfaltentäler, auf Kissen; der eine ging in die Irre, der andere lief sich
die Füße wund, den Verlorenen wiederzufinden. Und immer wurde die kalte Hand am
Ende von der warmen gefunden, und

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