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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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eine Summe, die er
in der Schule im ganzen Jahr nicht verdiente. Komischerweise erinnere ich mich,
dass, während er telefonierte, zwei Mädchen draußen auf dem Hof Neujahrsfest
spielten: Sie hatten einen halb abgenadelten Tannenbaum mit silbernen
Lamettafetzen in einen Haufen Dreck neben den Mülltonnen gesteckt und
bescherten einander, steckten sich mit leeren Händen Geschenke zu, die niemand
außer ihnen sah.
    An dem
Tag, als er zur Vertragsunterzeichnung bestellt war, setzte heftiger Frost ein,
alles war erstarrt und vereist: die Straße, der Fahrdamm, die Straßenbahn. Den
Menschen wuchs Grau an die Schläfen, Barte wurden versilbert, jeder trug seinen
Atem wie Zuckerwatte am Stiel vor sich her. Die große, dichte Dampfwolke vor
dem Eingang zur Metro war von Weitem zu sehen. Über den Türen, dem Schild mit
dem Stationsnamen sowie auf Giebel und Säulen war das Eis schon einen halben
Meter dick gewachsen.
    In dem
Keller, der den Verlag beherbergte, zog es aus allen Löchern. Die Fenster waren
dick bereift, man saß in Mänteln. Die Lektorin, die sein Buch betreute, stand
auf einem Stuhl und deckte die Ritzen zwischen Fenster und Rahmen mit breitem
Klebeband ab. Hinten an ihrem Rock haftete ein weißer Faden, und der Junglehrer
ertappte sich bei dem Wunsch, ihn behutsam abzunehmen und um den Zeigefinger
zu wickeln, um der Verehrtesten den Bräutigam weiszusagen wie in dem alten Kinderglauben
- jede Wicklung ein Buchstabe: Alexander, Boris... Die Dame zog den Kopf in den
Schal, hustete und schniefte ins Taschentuch, das sie sich vor die Nase hielt,
und befahl, sie ja nicht anzusehen.
    »Ich bin
ein schrecklicher Anblick. Schauen Sie lieber auf den Berg Sinai!«
    Auf einem
Kalender an der Wand waren irgendwelche sonnenbeschienenen Gipfel zu sehen.
Tatsächlich quoll der Lektorin der Eiter aus den Augen, also blickte der
Junglehrer gehorsam auf den Berg Sinai. Dort herrschte Mittagsglut, die heiße
Luft flimmerte und waberte.
    Während
der künftige Biografieschreiber das Vertragsformular ausfüllte, klagte die Dame
unter fortwährendem Schniefen, wie schwer es sei, mit älteren Herrschaften zu
arbeiten, und führte das Beispiel eines Filmregisseurs an, über den in dieser
Serie gleichfalls ein Buch entstand und der immer vergaß, dass sein Sohn
längst tot war. »Wo ist eigentlich Wasja?«, fragte er in Abständen. Einkaufen,
war die Routineantwort. Dann schien der alte Mann für eine Weile befriedigt und
fuhr fort, über seine Jugend zu erzählen, und das in allen Einzelheiten.
    Die
Tagebücher durfte der Junglehrer nicht mit nach Hause nehmen, nur xerokopieren,
doch er sah die Hefte noch am gleichen Tag auf dem eiskalten Ledersofa im
frostigen Verlagskorridor durch, neben einer mickrigen Grünpflanze, die wohl
nur deshalb noch nicht erfroren war, weil sie ständig mit warmem Rauch
angeblasen und ihr Kübel als Aschenbecher benutzt wurde. Die Finger waren steif
vor Kälte, außerdem hatte er Handschuhe anziehen müssen, mit denen es sich
schlecht blätterte, die Seiten rutschten weg und wollten sich nicht wenden
lassen, ein paarmal entglitten die kostbaren Hefte sogar seinen Händen und
flogen auf den dreckigen Fußboden - zum Glück immer dann, wenn gerade keiner
auf dem Flur war.
    Die
Tagebücher in den altmodischen, verschiedenfarbigen Umschlägen rochen genau wie
die Zigarettenkippen im Kübel, doch durch diesen kalten Mief schlug der Geruch
einer auf dicht beschriebenen Seiten abgelagerten Zeit. Außerdem duftete es
schwach nach Frau - nach alter Frau, um genauer zu sein, irgendein altes Parfüm.
Die Tinte war verblasst; zwischendurch hatte sie auch mit Bleistift
geschrieben. Manche Eintragungen waren datiert, andere nicht. Die Schrift war
eher flüchtig zu nennen und änderte sich immerzu: seitenweise wie gestichelt,
dann wieder krakelig. Einige Stellen waren mit dicker schwarzer Tusche
zugeschmiert. Es gab auch freie Blätter dazwischen - so als hätte etwas
nachgetragen werden sollen. Dahinter setzten sich die regellosen Eintragungen
fort. Ein paar Seiten waren herausgerissen. Nach der Nummerierung der Hefte,
fehlten drei davon ganz.
    Steif vor
Kälte kehrte der Junglehrer ins Lektoratszimmer zurück und nahm die Betrachtung
des sonnenüberfluteten, vor Hitze vergehenden Berges Sinai wieder auf. Wie gut,
dachte er, dass gerade dort sich der betörend blaue Himmel aufgetan hatte und
dem gesalbten Volk die Gesetzestafeln übergeben worden waren und nicht in der
Dampfwolke vor dem vereisten Zugang zur

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