Schischkin, Michail
Nachts
klettern irgendwelche Lausbuben aus Temernik über den Zaun und zertrampeln
alles. Mama will uns überreden, neu anzupflanzen, aber ich mag nicht mehr.
Morgens
trägt Mama den Mantel mit den weiten Ärmeln, in die hinein den Kopf zu stecken
Spaß macht. Nach dem Frühstück trinken die Erwachsenen Kaffee, und wir Kinder
kriegen von Mama ein Stück Zucker auf dem Löffelchen kredenzt, eingetunkt in
den schwarzen Kaffee in ihrer Tasse. Ich versuche Mama die Hand abzulecken,
denn sie nennt mich immer eine Schmeichlerin, ich verstehe: Speichlerin und
will dem gerecht werden.
Ich mag
es, wenn Mama Briefe schreibt, dann darf ich manchmal am Zeilenende das
Ausrufezeichen setzen.
Oft spielt
uns Mama aus Tschaikowskys Kinderalbum vor. Das
Begräbnis der Puppe ergreift mich dabei immer am meisten. Ich sehe noch vor
mir, wie ich meine Puppe Lisa hernehme, die die Augen auf- und zuklappen kann,
sie in eine Schachtel lege, und dann weine ich, weil sie gestorben ist. Irgendwann
wird mir langweilig ohne sie. Ich will die Schachtel öffnen, falle mir aber
selbst in den Arm: Nein, sage ich, das geht nicht, Lisa ist tot, sie ist nicht
mehr da. Aber alles sträubt sich in mir gegen diese Unmöglichkeit: Wieso soll
das nicht gehen? Da ist sie doch, meine geliebte Lisa, mit ihren herrlichen
strohblonden Locken, ihren rosa Bäckchen, ihrem Seidenkleidchen, und schon
klappt sie die Augen auf und kommt aus der Schachtel geklettert, als wäre
nichts dabei! Nur zu, liebe Lisa! Es gibt keinen Tod!
Und es
kommt der Tag, da ich meine Lisa einem Mädchen zum Spielen überlasse, und im
Streit kriegt das Mädchen einen Wutanfall und drückt der Puppe die Augen aus;
darauf kann man in dem hohlen Porzellankopf mit den schwarzen Augenhöhlen die
Glaskugeln kollern hören.
Die Küche
ist das Reich der Njanja, unserer Kinderfrau, die zu der Zeit auch noch das Amt
der Köchin versieht. Hier empfängt sie außerdem ihre Verehrer. Des Abends
tauchen sie auf: Polizisten, Matrosen mit Ziehharmonikas... Das Wort Ausbeutung
ist mir damals noch nicht geläufig, aber das ist es, was die Njanja mit ihnen
treibt. Mal müssen sie vorm Haus den Teppich ausklopfen, mal die Fußböden
bohnern. Wobei sie sich für letztere Tätigkeit lieber von professionellen
Fußbodenreinigern den Hof machen lässt. Einmal pro Monat erscheinen sie, werden
in der Küche eifrig beflirtet und bewirtet. Für Mama ist dieser Tag ein
Albtraum, sie verlässt das Haus; mir hingegen gefällt es außerordentlich, wenn
das Unterste zuoberst gekehrt wird, und der Geruch von Bohnerwachs ist
wunderbar.
An
Geburtstagen steht die Njanja schon in der Tür und wartet, dass du aufwachst,
dann kriegst du, wenn du die Augen aufschlägst, dein erstes Geschenk.
Zu
Vierzigheiligen, am neunten März, bäckt sie Lerchen mit gespreizten Flügeln -
wie im Flug! - und Rosinenaugen. Wir essen nicht alles auf, die Köpfe
überlassen wir den Eltern, pulen nur die Augen heraus, lassen uns die süßen
Rosinen schmecken. »Fliegt, ihr Lerchen, schnell herbei, schafft heran den
warmen Mai!«, rufen wir, und: »Schickt den Winter in den Tod, der uns wegfraß
alles Brot - kommt, befreit uns aus der Not!« Zwar kommt bei uns täglich ein
frisch gebackenes, duftendes Weißbrot auf den Tisch - doch in diesem Augenblick
scheint es mir wirklich so, als wäre nach dem ewig langen Winter kein Krümel
mehr im Haus zu finden, und einzig die lieben Lerchen könnten uns noch retten.
Bevor sie in die Röhre geschoben werden, steckt die Njanja in die eine oder
andere eine Münze oder ein Ringlein hinein. Und jedes Mal landet die begehrte
Lerche bei mir - anscheinend hat die Njanja sich gemerkt, wo sie die Kopeke
hineingesteckt hat, und mir das betreffende Brötchen vor die Nase geschoben.
Ich bilde mir ein, dass die vierzig Heiligen etwas mit Ali Babas vierzig
Räubern zu tun haben müssen, und höre mit Staunen, dass es bei dem Feiertag um
die vierzig Märtyrer von Sebaste geht; ich sehe die Njanja in der Kirche mit
spitzem Finger auf eine dunkle, alte Ikone deuten, auf der ich nichts erkenne
außer einer Weintraube von Köpfen mit Heiligenschein; und die Njanja wispert
mir die Geschichte ins Ohr, wie die armen Märtyrer sich in der grimmigen Kälte
ganz nackt hatten ausziehen müssen und zu Eis gefroren.
Ich mag
den Kirchengeruch von Lampenöl und Weihrauch, und das besonders im Winter, wenn
es draußen kalt ist und der Wind pfeift. Weihrauch wird angezündet, so erklärt
die Njanja, damit der liebe Gott etwas Gutes
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