Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
Vom Netzwerk:
Moskauer Metro. Derweil instruierte ihn
die verschnupfte Lektorin, mit dem Besuch bei der Heldin nicht zu säumen, denn
sie sei weit über die neunzig und bringe auch schon alles durcheinander, habe
ihre Absenzen, doch zwischendurch gebe es Lichtblicke, solch einen müsse man
abpassen, um mit ihr zu reden. Vor längerer Zeit habe sie angefangen, ihre
Memoiren zu schreiben, sei aber nie über die Kindheit hinausgekommen,
irgendwann habe sie es ganz aufgegeben.
    »Das kann
Ihnen als Hilfestellung dienen«, sagte die Dame, »aber erwarten Sie nur nicht
zu viel davon. Ich habe es zu lesen versucht - nicht umwerfend. Das Wichtigste
ist, sie zum Reden zu bringen... Nun nicken Sie doch wenigstens mal!«
    Der
Junglehrer nickte brav und schob sich die Hundertdollarscheine - dergleichen
hatte er nie zuvor in Händen gehabt - lässig in die Hosentasche.
    »Wie soll
ich Ihnen erklären, was mir vorschwebt«, fuhr sie fort. »Sinn und Zweck des
Buches ist sozusagen eine Auferstehung aus der Gruft: Man hielt sie für tot,
sie war von allen vergessen, und nun sagen Sie zu ihr wie weiland Jesus zu
Lazarus: Komm heraus! Verstehen Sie?«
    »Jaja«,
nickte er, »was gibt es da nicht zu verstehen!«
    In der
Metro fühlte er mehrmals nach, ob die gelobten Scheinchen noch an Ort und
Stelle waren. Er fragte sich, ob man ihm sein Glück nicht ansah, und bekam
Angst, man könnte ihm das Geld im schweißigen Gedränge des Fußgängertunnels aus
der Tasche ziehen.
    Noch in
der Nacht las der angehende Biograf den Packen Kopien ihrer Tagebücher und
Erinnerungen ein erstes Mal. Tatsächlich verlor sich die Alte in unnötigen
Einzelheiten, erging sich in Beschreibungen von Leuten, die sonst keinen
interessierten; für das Buch, das man bei ihm bestellt hatte, schien das alles
kaum von Nutzen zu sein.
    Am
nächsten Tag in der Schulpause wählte der Junglehrer die Nummer, die er vom
Verlag erhalten hatte. Bella Dmitrijewna gehe es im Moment gesundheitlich nicht
gut, sie könne nicht empfangen, wurde ihm gesagt. Man bat in einer Woche wieder
anzurufen. Eine Woche später die gleiche Auskunft. Schließlich kam die
Verabredung aber doch zustande, und er machte sich auf den Weg zum Trjochprudny
Pereulok.
    Der
Frühling war angebrochen; auf dem von Autos - rostigen Ladas und Westwagen,
verkrustet vom Moskauer Dreck - zugeparkten Hof kam aller Müll, der sich den
Winter über angesammelt hatte, unter dem Schnee hervorgekrochen. Das
Codeschloss am Eingang funktionierte nicht, der Fahrstuhl war außer Betrieb, er
musste die mit Bauschutt, Altpapier und Heringsköpfen vollgemüllten Treppen
hinauf. Der typische Moskauer Treppenhausgeruch aus Urin von Mensch und Katze
sowie feuchtem Putz. Auch die Wohnungsklingel ging nicht. Der Junglehrer
klopfte. Erst wurde ausgiebig durch den Spion geschaut, dann öffnete sich die
Tür einen Spalt. Die alte Frau sei letzte Nacht ins Krankenhaus eingeliefert
worden. In der Finsternis des Korridors konnte er nur Hände ausmachen, bemehlte
Hände. Während der Junglehrer mit diesen weißen staubenden Mehlhänden sprach,
ging ihm auf, dass aus dem Buch über die Sängerin wohl nichts werden würde.
    Noch
mehrmals läutete er an dieser Tür. Seine Heldin kehrte aus dem Krankenhaus
zurück, doch sie zu behelligen hatte wohl keinen Sinn mehr - die lichten
Momente blieben aus. Ob er es nicht wenigstens einmal versuchen dürfe, fragte
er.
    »Sie
erkennt ja gar niemanden«, lautete die Antwort. »Wären Sie so freundlich,
junger Mann, einen alten, kranken Menschen in Frieden zu lassen? Das gehört
sich doch wohl!«
    Einige
Zeit verging. Dann erfuhr der Junglehrer, dass man von der geplanten
Biografienreihe, für die er sein Buch hatte schreiben sollen, vorläufig ganz
Abstand nahm. Dann ging eine große Bank krachen, und mit ihr verschwand der
Verlag von der Bildfläche. Noch vieles andere kam dazwischen, und der Stapel
unnützer Kopien, in einer Brötchentüte steckend, lag jahrelang in einer
Plastiktüte unter einem Stapel von Büchern und Papieren.
    Als Bella
Dmitrijewna starb, war er schon Dolmetsch in fernen Landen. Von ihrem Tod
erfuhr er zufällig, als er einmal in Moskau war. Es hatte ein festliches
Begräbnis gegeben, Zeitungsartikel und Fernsehberichte. Und der Zufall wollte
es auch, dass der Dolmetsch sich einmal, in Erledigung ganz anderer Dinge, auf
dem Trjochprudny wiederfand. Hof und Haus waren kaum wiederzuerkennen, alles
wie geleckt, vor den frisch gewaschenen, in der Junisonne blitzenden Limousinen
lungerten ein

Weitere Kostenlose Bücher