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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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Notizbücher,
Zeitungen und Zeitschriften, Konzepte, Ausschnitte, Abschriften, Ägypten vor
dem Sande, eine ausgefallene Plombe, das Vierspringerspiel auf der
Annitschkow-Brücke, Einkerbungen spitzer Absätze im Parkett.
    Apropos
Ägypten: Es fand sich in den Kisten Schrifttum aus jener Prähistorie, da der
Dolmetsch Junglehrer für kleine Orotschen und Tungusen war - und das für einen
Hungerlohn, weshalb er nach Schulschluss noch private Nachhilfe erteilte.
Damals hatte der Junglehrer gerade seine erste Erzählung in einer Zeitschrift
veröffentlicht und geglaubt, dass die Welt davon aus den Angeln gehoben würde,
was aber, gegen alle Erwartungen, nicht geschah. So leicht lässt sich die Welt
zum Glück nicht aus den Angeln heben.
    Dafür, zum
Trost gewissermaßen, kam eines verregneten Wintertages - der halbe Winter war
schon vorbei, doch Frost und Schnee ließen auf sich warten, die weggeworfenen
Neujahrstannen lagen auf dem Hof im welken Gras - ein Anruf aus einem jener
Verlage, die sich seinerzeit in beinahe jedem Souterrain aufgetan hatten: ob
der Junglehrer nicht für eine Biografienreihe über eine einstmals berühmte
Romanzensängerin schreiben wolle?
    Als er
ihren Namen hörte, sah er augenblicklich die Kellerwohnung im
Starokonjuschenny Pereulok vor sich und den vorsintflutlichen elektrischen
Plattenspieler mit dem kaputten Tonarm, den sein Vater, ein alter
U-Boot-Matrose, mit blauem Isolierband umwickelt hatte. Auf ihm ließ der
künftige Junglehrer unermüdlich seine Kinderschallplatten mit Cipollino, dem
Zwiebelchen, und dem Riesenmilizionär Onkel Stjopa laufen, der Vater wiederum
seine alten, schweren schwarzen Scheiben, wofür die Geschwindigkeit von 33 auf
78 umzustellen war. Schelm und Lümmel, der er war, hörte der Junglehrer in spe
es natürlich mit Vorliebe umgekehrt: Dann zwitscherte Signor Pomodoro in den
höchsten Liliputtönen, während die Frauenstimmen auf des Vaters Platten wie
Onkel Witja klangen - das war der Nachbar, dem im Krieg ein Geschoss den
Unterkiefer aufgerissen hatte, weshalb, so hieß es, ein Silberröhrchen in den
Hals operiert worden war.
    Der
Exmatrose hatte eine Platte jener Sängerin besessen; immer wenn er betrunken
nach Hause kam, legte er sie auf. Mama floh zu Nachbarn oder in die Küche, er
knallte die Tür hinter ihr zu, nahm den künftigen Junglehrer in den Zangengriff
seiner Arme, ließ sich mit ihm auf dem Sofa nieder (hier schliefen sie alle
drei; die Frau pflegte den Jungen, obwohl der sein eigenes Bettchen hatte, als
Schutzschild zwischen sich und den Mann zu legen) und begann von irgendeiner
Sosja zu erzählen, die ihm die Platte geschenkt habe, als das U-Boot nach dem
Krieg in der Basis von Lipawa lag. Für Sosja interessierte sich der künftige
Junglehrer nicht sehr, er bat von den Melonen zu erzählen. Und der Vater
gedachte seiner Jugend, als er mit den Jungs Melonen von den Eisenbahnwaggons
geklaut hatte, grüne und gelbe. Der künftige Junglehrer ließ das Ganze wie
einen Film vor sich ablaufen: Gerade bremst der Zug seine Fahrt, da nimmt der
Held, sein Vater, Anlauf und springt auf das Trittbrett des Melonenwagens,
pirscht sich, flach an der rüttelnden Wand klebend, vor zu den lockenden Luken
knapp unterm Dach und wirft eine Melone nach der anderen vom fahrenden Zug.
Manchmal platzen die Melonen beim Aufprall, explodieren wie Granaten.
Schließlich springt er geschickt ab, genau in der Mitte zwischen zwei Masten,
kugelt die Böschung hinab... Da war der künftige Junglehrer sehr stolz auf
seinen Vater und die Melonen.
    Und noch
jetzt, da ich dies alles schreibe, kriege ich auf einmal schrecklichen Appetit
auf Melone - so als wäre ich es und nicht der Vater, der da an der dröhnenden
Waggonwand hängt, unterwegs zur offenen Luke, hinter der es dunkel ist, doch
ich weiß schon, dass keine Wassermelonen dort drinnen sind, sondern
Zuckermelonen, denn ich kann die reifen gelben Schalen riechen.
    Über diese
Sängerin von der Schallplatte, der er manchmal die Stimme von Onkel Witja mit
dem Silberröhrchen in der Kehle verpasst hatte, sollte der Junglehrer nun ein
Buch schreiben. Wie sich herausstellte, lebte sie noch, obwohl jedermann
annahm, sie wäre längst tot. Dem Verlag waren ihre Tagebücher und Erinnerungen
angeboten worden. Nun sollte er sie treffen und ihre Berichte auf Band
aufnehmen.
    Selbstverständlich
erklärte sich der arme Junglehrer anstandslos dazu bereit, zumal ein Vorschuss
in Aussicht gestellt wurde - sagenhafte dreihundert Dollar,

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