Schischkin, Michail
sich, ist gleich nebenan: Die Stadt
Tanais, von griechischen Siedlern aus Kertsch gegründet, liegt am Don, bei der
Kosakensiedlung Jelisawetowskaja. Ich erinnere mich nur an sengende
Mittagshitze, irgendwelche Gruben und Hügel in größerer Ferne, mitten in der
Steppe. Während der Vater etwas über Philosophen und Weinbauern, Peplen und
Chitone erzählt, bin ich nur am Jammern, vergehe fast vor Hitze und Durst. Ich
kann es nicht erwarten, dass wir dieses Tanais, diese Ansammlung von Gruben und
verstreuten Steinen, wieder verlassen. Ich glaube an keine alten Griechen. Und
als ich höre, die Stadt befinde sich an der Grenze der damaligen Welt, zwischen
Kultur und Unkultur, Licht und Dunkel, und sei von den Barbaren zerstört
worden, da wundere ich mich, dass die Temerniker Jungs, die unsere Blumen
zertrampelt haben, auch diese Stadt auf dem Gewissen haben sollen; Mama hat sie
gleichfalls Barbaren genannt. Mein Hirn durchblitzt eine kindliche Ahnung: Ob
nicht vielleicht auch wir eines Tages als alte Griechen angesehen werden, die
inmitten von Barbaren gelebt haben?
In einer
Kalesche, deren Sitzbrett so von der Sonne aufgeheizt ist, dass ich mir den
Allerwertesten verbrenne, fahren wir dann eine Ewigkeit bis zu dem skythischen
Grabhügel, in dem die Wissenschaftler Gold gefunden haben. Ich bin nahe am
Einschlafen, mir wird schwummrig von der glühenden Sonne. Ich will das Gold
sehen, aber auch hier erwartet mich eine Enttäuschung. Irgendwelche Leute sind
da, die Papa komische Schalen in die Hand geben, das ist alles, was ich noch
weiß. Abgesägte Schädeldecken, wie sich herausstellt, die als Aschenbecher
benutzt wurden. Das sei die Rache für Fürst Swjatoslaw gewesen, so wurde
gescherzt, aus dessen Schädel die Petschenegen sich einen Trinkbecher machten.
Vater hat von da an eine dieser Schalen auf seinem Schreibtisch stehen, obwohl
er Nichtraucher ist.
Großen
Spaß macht es mir, mich nachts aus dem Zimmer zu schleichen, ins elterliche
Schlafgemach hinüber, und in ihr Bett zu kriechen. Das ist so ein Spiel: Mama
versteckt mich unter ihrer Decke, Papa spürt mich auf und will mich vor die Tür
setzen, spricht von irgendwelchen Mysterien, zu denen Kinder nicht zugelassen
seien. Ich verwechsele das Wort und sage: Ministerien. Da lachen sie, Mama
trägt mich kopfschüttelnd zurück in mein Bett im Kinderzimmer.
Erst viele
Jahre später erfahre ich, dass Papa zu der Zeit bereits eine andere Familie
hatte.
In die
Kirche ging er selten, auf den Friedhof so gut wie nie. Es machte ihn fuchsig
zu sehen, wie die Leute ihren Toten den Osterbesuch abstatten: ihnen zur
Auferstehung Christi gratulieren, indem sie dreimal das Kreuz küssen, sie mit
Eiern bewirten, die sie in die Erde graben, Pfannkuchen, die sie auf die Umrandung
legen, das Grab mit reichlich Wodka begießen. Hingegen begeisterte ihn die Idee
des Krematoriums, das eine Erfindung der Deutschen war. Er hatte einen Artikel
in der Niwa gelesen und zeigte ihn herum, dort
war die Beschaffenheit der Öfen genauer erläutert. »Ach, wenn ich doch das
Rostower Krematorium noch erleben könnte!«, beliebte er zu scherzen.
Dabei war
er ein tiefgläubiger Mensch, wie mir scheint, und ich weiß nicht, wie er all
das miteinander in Einklang brachte. Einmal, da konnte ich schon das Alphabet
und war munter am Lesen, kam ich an eine gewisse Bibelstelle: Ich will
wieder zu dir kommen über ein Jahr, und siehe, so soll Sara, dein Weib, einen
Sohn haben - und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und wohl betagt, also
dass es Sara nicht mehr ging nach der Weiber Weise. Darum lachte sie bei sich
selbst - doch da sprach der Herr zu Abraham: Sollte dem Herrn etwas unmöglich
sein?
Auch ich
wollte es lustig finden, so wie Sara. Ich las die Stelle dem Vater vor. »Ich
wüsste nicht, was es da zu lachen gibt«, sagte er.
Meine
Großeltern habe ich alle nicht gekannt, sie starben vor meiner Geburt.
Jedes
Frühjahr besuchen wir den Jahrmarkt in Nachitschewan. Der liegt an der
Georgijewskaja, wo die armenische Georgskirche steht. Dort, auf der Brache
zwischen Rostow und Nachitschewan, wird ein riesiges Volksfest abgehalten, eine
ganze Woche lang. Ich entsinne mich der Schaukeln und Karussells, behängt und
bemalt mit fantastischem Getier, das sich im Kreis dreht, und die Drehorgel
spielt dazu. Eine Schaubude gibt es, an deren Eingang Clowns und Mimen das Volk
zum Eintritt animieren. Wir kaufen Halwa und Apfelsinen, Kwas und allerlei
Schleckereien.
Viele
Jahre später erfahre ich,
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