Schischkin, Michail
dass Armenier und Griechen auf Katharinas Geheiß von
der Krim deportiert und in der Wildnis der Steppen ihrem Schicksal überlassen
wurden. Tausende starben. Von den dankbaren Armeniern, steht am
Katharina-Denkmal in Nachitschewan geschrieben. Russische Kinder, wenn sie ein
Marienkäferchen gefangen hatten, sangen: »Marienkäfer, bring mir Glück! Bring
vom Brot ein Stück! Ob aus der Mitte oder vom Rand, nur nicht verbrannt!«
Armenische hingegen: »Marienkäfer, zeig mir den Weg bis zur Krim!« ... Aber das
kommt alles später, jetzt bin ich auf dem Jahrmarkt und esse Koz Helva, das ist
Halwa mit Nüssen. Beißt man ab, so löst sich das zwischen den Fingern
verbleibende Stück nicht gleich von den Zähnen, sondern zieht sich in die
Länge, bis das Ende einem Elefantenrüssel gleicht.
Während
einer Prozession - wir gehen die Straße lang und singen von Jesus Christus -
begegnen wir einer alten Frau mit einem Jungen. Ich sehe, wie die Frau dem Kind
eilig ihr Tuch über den Kopf wirft, damit es uns nicht sieht. »Hast du gesehen?
Das tut sie, damit er sich nicht an uns beschmutzt!«, schnaubt die Njanja
gehässig. So höre ich zum ersten Mal von den Juden.
Die Njanja
erzählt, wie die Juden an ihrem Feiertag Opfer bringen: Die Männer wirbeln
einen gefesselten Hahn um ihren Kopf herum, die Frauen ein Huhn, dabei bitten
sie Gott, die Strafen für die Sünden der Betenden an dem Tier auszulassen.
»Ts-ts«, macht die Njanja und schüttelt das Haupt, »am Ende waren es Hahn und
Hühner, die den Heiland ans Kreuz genagelt haben!« Außerdem erfahre ich von der
Beschneidung und dass das Blut dem Jungen nach dem Schnitt von einem gewissen
Mohel abgesaugt wird. Mir wird bange. Und ich frage mich, was genau dem armen
Jungen da abgeschnitten wird!
Mit der
Zeit werden es immer mehr Orte, wo ich lieber nicht hingehe. Auf dem Markt wird
einmal in meinem Beisein ein Dieb geschnappt und verprügelt. Ich bin mit Mama
und Njusja da. Mama führt uns rasch weg vom Geschehen, damit wir nichts
mitbekommen. Nach einiger Zeit kehren wir zurück, um die restlichen Einkäufe
zu erledigen. Ich sehe, wie ein Knecht Sand über eine Blutpfütze streut.
Außerdem
ist mir der Markt durch die Hundefänger verleidet. Sie streuen Pillen aus, die
mit Strychnin vergiftet sind. Nicht nur einmal müssen wir mit ansehen, wie ein
Hund unter Qualen stirbt. Aber davon nimmt die Zahl der herrenlosen Hunde nicht
ab, denn prompt kommen Köter aus Nachitschewan herübergetrottet - Rute steil
aufgerichtet, Zunge seitlich heraushängend - und nehmen das frei gewordene
Revier in Beschlag. Und werden in Nachitschewan Hunde vergiftet, wechseln
Rostower Exemplare an ihre Stelle.
Ich bin
sechs Jahre alt. Ich lerne neue Wörter kennen: Streik, Revolution, Pogrom.
Njusja und
Mascha, die schon ans Gymnasium gehen, kommen eines Morgens zurückgeflitzt und
berichten, es habe mitten im Unterricht Geschrei auf der Straße gegeben und
dann Schüsse. Jemand habe in das Fenster der Aula geschossen, wo die Porträts
des Zaren und seiner ganzen Familie hängen, man kann sie von der Straße aus gut
sehen. Der Unterricht fällt jetzt öfter aus, weil die Lehrer wegen des Streiks
nicht rechtzeitig zur Stelle sind.
In der
Stadt gibt es Unruhen. Alle haben sorgenvolle Mienen. Keiner mag mir etwas
erklären. Ich höre, die Juden hätten auf eine Prozession geschossen und einen
Jungen getötet, der die Ikone vorantrug. Der Junge tut mir schrecklich leid,
ich weine und bin untröstlich.
Als Nächstes
brennt der Neumarkt. Eine schwarze Rauchsäule steht über der Stadt; weil
Windstille herrscht, ist sie kerzengerade, wie der Stiefel eines gigantischen
Riesen.
Ständig
höre ich das Wort Pogrom. Aufgeregt tuschelt die Njanja mit irgendwem: Heißt
ein weißes Kreuz am Tor, dass hier demnächst ein Pogrom bevorsteht, oder dass
gerade nicht? Die Njanja stellt Ikonen und Kreuze in die Fenster, postiert sich
selbst mit einer vorm Tor. Ich werde unter Aufsicht von Katja und Mascha
gestellt und im Kinderzimmer festgehalten. Dann wird Sascha vermisst, er ist in
die Stadt gelaufen, große Aufregung um ihn, Mama schluckt Beruhigungstropfen.
Papa ist die ganze Zeit im Krankenhaus. Njusja, als wäre nichts, setzt sich ans
Klavier und fängt an zu üben, sie will ans Konservatorium, um einmal eine
berühmte Pianistin zu werden. Sie solle sofort aufhören, wird ihr gesagt. »Ich
kann doch nicht die Stunde schwänzen wegen irgendwelcher Halunken!«, schreit
sie.
Mama kommt
in unser Zimmer
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