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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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könnte nicht vorhanden sein, beruhigten mich
tatsächlich ein wenig.
    Dabei sind
mir Kolumbus und die Verfolgungen der spanischen Juden gar nicht wichtig. Mir
geht es nur darum, dass ich meinen wunderbaren, klugen, bezaubernden Papa lieb
habe und weiß, dass er mich lieb hat, und nichts außer meiner Liebe zu ihm und
seiner zu mir spielt eine Rolle.
    Was mir
von diesem schrecklichen Jahr außerdem noch in Erinnerung ist? Kanonendonner.
Ein dunkler, kalter Dezember. Das Wort Temernik fällt immer wieder, Grauen
klingt mit. Es ist gefährlich, auf die Straße zu gehen, denn da ist Temernik.
Sascha und die Schwestern dürfen nicht zur Schule gehen - wegen Temernik. In
der Stadt ist eine regelrechte Schlacht entbrannt: Eine Batterie der Kosaken
schießt vom alten jüdischen Friedhof aus auf Temernik. Im Morgengrauen
erschüttert eine ungeheure Explosion die Stadt: Eine Granate ist in die Kantine
der Landmaschinenfabrik Aksai eingeschlagen, wo sich ein Munitionslager
befand. Viele Menschen sterben - jemand erzählt, er hätte Leichenteile samt
Kleidern in den Bäumen hängen sehen.
    Sehe ich
auf der Straße Menschen in schmutzigen Sachen und mit mürrischen Gesichtern,
dann weiß ich, das ist Temernik. Sonntags, wenn sie betrunken sind, wird es
noch furchtbarer. Zu Fastnacht gehe ich mit meinen Schwestern aufs Volksfest,
aus dem ein wahres Schlachtfest wird - verschiedene Enden von Temernik prügeln
aufeinander ein. Wir suchen das Weite.
    Im
Frühling kommen die Zigeuner in die Stadt. Sascha und seine Freunde gehen das
Lager besichtigen. Die Zigeuner hätten einen Igel mit einem Strohhalm
aufgeblasen, bis die Haut mitsamt den Stacheln abplatzte, dann hätten sie ihn
mit Lehm eingeschmiert und gebraten, so erzählt er. Wir glauben ihm nicht, doch
die Erwachsenen bestätigen, dass Igelbraten eine Lieblingsmahlzeit der
Zigeuner sei. Ich verkünde, dass ich Zigeuner nicht mag. »Du isst doch auch
Hühnchen«, wendet Mama ein. »Und die Zigeuner essen eben gerne Igel.« Meine
geliebten Hühnerkeulchen, wie die Njanja sie mir brät, mit einer Serviette um
den Knochen gewickelt, bekomme ich nach diesem Gespräch eine Zeit lang nicht
runter.
    Die Njanja
und Papa kriegen sich wegen der Herkunft der Zigeuner in die Haare. Die Njanja
will gehört haben, dass es sich bei den Zigeunern um Juden handelt, die mit
Moses aus Ägypten ausgezogen seien, nur eben als ein abtrünniger,
fluchbeladener Zweig der Judäer, die dem Propheten nicht gehorchten und weiter
das Goldene Kalb anbeteten, und dass sie bei den Juden immer die dreckigste
Arbeit zu verrichten gehabt hätten, in der Schmiede vor allem, und die Nägel,
um Jesus ans Kreuz zu schlagen, die hätten sie geschmiedet. Dafür seien sie vom
lieben Gott gestraft worden, Vertriebene auf ewig zu sein.
    Alles
Unfug, widersprach Papa. Sie stammen aus Indien, aber in Wahrheit wisse niemand
etwas Genaueres über sie, da sie über kein Schrifttum verfügen. Wenn man das
Geschehene nicht aufschreibe, sagt Papa, dann gehe alles dahin; nichts, was
bleibt - so als wäre nie etwas gewesen. »Weißt du noch, was vor einem Jahr
gewesen ist?«, fragte er mich. Ich weiß nicht mal mehr, was gestern war,
geschweige vor einem Jahr. »Siehst du!«, fährt Papa fort. »Deshalb muss man
Tagebuch führen und alles aufschreiben.«
    Und Papa
schenkt uns allen schöne Hefte, um Tagebuch zu führen - sogar mir, die ich
gerade erst schreiben lerne.
    Wie ich
mit Njusja auf dem Weg in die Konditorei bin, macht sich in der Nikolskaja eine
Zigeunerin an uns heran. »Ich kann weissagen, wer euer Bräutigam sein wird!«
Ihre Röcke sind staubig und grellbunt, sie greift nach uns mit schmutzigen
Händen. Njusja wehrt lachend ab: »Ich hab schon einen!«, sagt sie. So erfahre
ich zum ersten Mal von Kolja, Njusjas künftigem Mann. Die Zigeunerin hängt
sich an uns wie eine Klette, lässt nicht locker. »Na schön!«, gibt Njusja nach,
»du kannst ja mal für meine Schwester weissagen!« Ich knabbere an einer
saftigen Birne, die wir gerade an einem Stand gekauft haben. Die Zigeunerin
nimmt meine klebrige flache Hand und liest. Ich erfahre, dass ich ein langes
Leben haben werde. Königin sein werde. Ein Ritter wird um meine Hand anhalten,
mit wahrer Liebe bis ins Grab, und ein Goldkind brächte ich auch zur Welt. Dann
nimmt sie mir die angebissene Birne ab und bespuckt sie flugs von allen Seiten.
Hält sie mir wieder hin: »Da hast du! Jetzt wird alles, was ich sagte, wahr.«
Ich ziehe die Hände hinter den Rücken. So

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