Schischkin, Michail
mit einem fremden schwarzhaarigen Mädchen an der Hand. Es
heißt Ljalja. Ist ganz verschreckt und zittert. Mama erklärt uns, dass Ljalja
Jüdin ist. Das Wort ist schrecklich, das Mädchen aber nicht, im Gegenteil, sie
tut uns gleich furchtbar leid. Man hat ihr eingeredet, es hätte gar keinen
Jesus Christus gegeben - die Arme! Wir versuchen ihr klarzumachen, dass es ihn
selbstverständlich gegeben hat. Sie fängt an zu weinen. Mama, die hereinschaut,
denkt, wir hätten Ljalja beleidigt, und ist böse auf uns.
Später
wird Ljalja meine beste Freundin. Ihr Bruder Efrem Zimbalist, zehn Jahre älter
als sie und Geiger, reist nach Amerika aus und wird ein bekannter Musiker.
Der Pogrom
hält ein paar Tage an. Sascha taucht zwischendurch auf und verschwindet
wieder, obwohl Mama ihn anfleht, nirgends hinzugehen, überall in der Stadt wird
geschossen. Im Kinderzimmer erstattet er Bericht, was er gesehen hat. Der Leichnam
des zuerst getöteten Jungen ist durch die Straßen getragen worden. Aus dem
Fenster einer Apotheke hat man Flaschen mit Schwefelsäure auf die Straße
geschmissen. Der Bruder behauptet zwei abgehackte Finger gefunden zu haben, sie
seien im Brillenetui. Als er sich anschickt, es aufzuklappen, um sie uns zu
zeigen, rennen wir schreiend davon. Er lacht.
Es ist uns
verboten, ans Fenster zu gehen, aber eine von uns Schwestern hält immer dort
Wache; heimlich und auf alles gefasst, lugen wir hinaus. Immer wieder kommen
Leute vorbei, meist im Laufschritt, mit irgendwelchen Sachen auf den Armen.
Bauern mit Melonenhüten sind mir in Erinnerung, Fabrikarbeiter mit gewagten
Kopfbedeckungen jedweder Fasson; einer schleppt einen Stapel Schirmmützen. Ein
Junge in abgerissenen Klamotten trägt eine nagelneue Gymnasiastenmütze. In der
Nähe ist ein Hutladen gewesen.
Am Abend
hören wir Papa, aus dem Krankenhaus kommend, berichten, wie viele Leichen den
Tag über eingeliefert worden seien, schwer verunstaltet, mit Knüppeln, Steinen
und Spaten erschlagen.
Schließlich
werden wir wieder auf die Straße gelassen. Nun sind Mengen von Menschen
unterwegs, um die zerstörten Läden zu begaffen. Wir stehen vor der
ausgebrannten Synagoge. Nebenan das Haus des Advokaten Wolkenstein ist
gleichfalls geplündert und ausgebrannt. Mir schwant, dass es dieses Haus
gewesen sein muss, wo ich mit Papa zu Besuch war und mit dem Boot auf Rädern
fuhr. Beim Gedanken an das Boot bin ich außer mir: Es wird doch nicht mit
verbrannt sein? Ängstlich sehe ich mich um. Was, wenn einer von denen, die
neben mir die Straße langlaufen, dieses wunderbare Boot kaputt gemacht und
verbrannt hat?
Das Leben
geht weiter. Einmal stelle ich die Frage, warum ich eigentlich Isabella heiße.
Zu Ehren einer spanischen Königin, antwortet Papa. Das gefällt mir. Ich
spiele, dass ich die spanische Königin bin. Genauer: Ich als Einzige weiß,
dass ich in Wirklichkeit sie bin. Es kommt nicht auf das lange Kleid an, das
aus Mamas Schal besteht, nicht auf die Krone, die ich mir aus Goldpapier
bastele, entscheidend ist das heimliche Wissen: Ich bin die Königin.
Gewissenhaft, durch ausgiebiges Waschen lege ich die langen, bis zu den Ellbogen
reichenden Ballhandschuhe aus Seifenschaum an.
Die
Schwestern büffeln Geschichte, ein vertrauter Name klingt mir in den Ohren, ich
höre genauer hin. O mein Gott! Plötzlich erfahre ich, dass Königin Isabella von
Spanien die Juden verfolgt hat. Wie kann das sein? Das ist ganz unmöglich!
Meine Königin - und Pogrome? Die abgeschnittenen Finger im Brillenetui fallen
mir wieder ein - es gab sie, Sascha hatte nicht gelogen. Wortlos knöpfte Papa
sie ihm ab, nahm sie am nächsten Morgen mit in die Klinik.
Ich laufe schnurstracks
zu Papa, stürze in sein Arbeitszimmer, frage mit bebender Stimme nach Isabella.
Nur er kann mir noch helfen, er ist meine letzte Hoffnung. Papa ist nicht
allein, er hat Sprechstunde, ein fremder Mann sitzt am Tisch. Ich muss damit
rechnen, dass Papa mir zürnt, mich aus dem Zimmer schickt, aber er nimmt mich
bei den Händen und erklärt mit ruhiger Stimme: »Ja, es ist wahr. Isabella hat
einen solchen Befehl erlassen. Aber man darf nicht vergessen, dass sie im
selben Jahr Kolumbus auf Reisen schickte, und der hat Amerika entdeckt. Hätte
sie Kolumbus nicht entsandt - wer, wann und wo bitte schön hätte dieses
Amerika dann entdeckt? Es gäbe Amerika womöglich bis heute nicht! Das muss man
sich vorstellen!...« Ich weiß nicht, wieso, aber Kolumbus und der Gedanke, das
von ihm entdeckte Amerika
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