Schischkin, Michail
Orotschen?
Antwort: Den
Orotschen.
Frage: Was
wussten Sie über diese Leute?
Antwort: Nicht
viel. Sie glauben, die erste Frau auf Erden wäre in eine Bärenhöhle gefallen
und hätte hernach Zwillinge geboren: einen Bären und einen Menschen. Die zwei
Brüder wuchsen heran, einer schlug den anderen tot, und die Welt nahm ihren
Lauf. Als der Junge ein Mann war, ging er auf die Jagd.
Frage: Wie ging
es weiter?
Antwort: Ein großer
Elch entführte die Sonne, und der Jäger wollte sie ihm abjagen.
Frage: Gelang es
ihm?
Antwort: Nein. Oder
vielmehr doch. Sie sind sehr weit abgekommen. Der Elch rennt bis heute den
Himmel entlang mit der angebissenen Sonne im Maul. Kommt immer wieder. Da hat
ein Möbius auch den Himmel auf seine Art zusammengeklebt. Und die Milchstraße
ist die Skispur des Jägers. Dort oben wird nämlich auch Ski gelaufen. Überall
Loipen. Der Jäger läuft im Kreis, mal auf der sichtbaren Seite des
Möbiushimmels, mal auf der unsichtbaren. Es gibt drei Welten: Eine Oberwelt,
unser Winterland und eine Unterwelt, das sogenannte Mlywo, welche die
wichtigste ist. Wenn die Menschen in der Oberwelt Tierfelle zu Schuhen und
Kleidern vernähen, fällt der Verschnitt zur Erde und verwandelt sich in Füchse,
Hasen und Hörnchen. Die Oberweltmenschen halten die Seelen der Menschen an
Fäden, genauso die Oberweltbäume die Baumseelen, die Gräser die Grasseelen.
Reißt so ein Faden aus irgendeinem Grund ab, dann wird der Mensch krank und
stirbt, der Baum verdorrt, das Gras welkt. In die Oberwelt gelangt man über ein
Loch im Himmel, njangnja sangarin geheißen,
es ist der Polarstern. In der Unterwelt aber, dem Mlywo, unterscheidet sich das
Leben in nichts von der Erdenwelt, der gleiche Winter - nur dass die Sonne
scheint, wenn auf der Erde Nacht ist, und wenn es tagt, geht dort der Mond auf.
Das Winterland geht über ins Mlywo - oder besser gesagt, der Mensch, der ins
Mlywo abtritt, nimmt den Winter mit. Dort wird das gleiche Winterleben gelebt:
Jagen und Fischen, Schlitten bauen, Gespanne flicken, Kleider nähen. Man heiratet,
wenn der auf Erden verbliebene Gemahl selbiges tut, gebiert Kinder, wird siech
und stirbt - was nichts anderes heißt, als auf der Erde wiedergeboren zu
werden, mitten in den Winter hinein, als Frau oder Mann. Im Mlywo ist alles
genauso und doch nicht gleich. Der lebende Mensch ist für die Bewohner dort
unsichtbar, seine Worte nimmt man wahr als Knacken im Herdfeuer.
Frage: Heißt das,
in dem Mlywo gibt es auch diesen Raum hier, wo an den Wänden Fische geangelt
werden und auf dem Stuhl Menschen, wo die Büroklammern in Reih und Glied liegen
und die Karte vernadelt ist, wo Geschichten zurückgelassen werden und Menschen
entlüftet, und eine Schneelandschaft fläzt sich auf dem Fensterstock?
Antwort: Das weiß
ich nicht. Wir sind ja keine Orotschen. Wir glauben an nichts als an den
Winter.
Frage: Und wie
fing bei euch die Welt an?
Antwort: Auch bei
uns waren einmal zwei Brüder. Aber vorher ist überall Wasser gewesen. Nichts
als Wasser, nirgends ein Ort zum Leben. Dann kam der Winter, das Wasser gefror,
und das Festland entstand.
Frage: Und die
Brüder?
Antwort: Der eine
war gut, der andere böse. Der eine hat aus Schnee die Tungusen gebaut, der
andere die Orotschen.
Frage: Und das
Mlywo?
Antwort: Das Mlywo
ist, was es ist.
Frage: Und die
beiden in den Winter Hineingeborenen - wer waren die nun? Daphnis und Chloe?
Antwort: Ja. Chloe
ist Orotschin, Daphnis Tunguse.
Frage: Jetzt also
Ziegen, Schafe, Panflöte? Mitten im Winter?
Antwort: Der Liebe
ist noch keiner entkommen, und das wird so bleiben, solange es Schönheit gibt
und Augen, sie zu sehen.
Frage: Aber
welche Frau möchte schon für ein paar Äpfel einen Hirten zum Mann?
Antwort: Sie wissen
doch, es ist wie eine Krankheit. Dem Menschen geht es mies, den Viren blendend,
sie haben ein Zivilisationshoch... Genauso ist es mit der Liebe. Von Essen und
Trinken wollte Chloe nichts mehr wissen, nachts lag sie schlaflos, und ihre
Herde versäumte sie; bald lachte sie, bald kamen ihr die Tränen, nun schlief
sie, dann sprang sie wieder auf, ihr Gesicht war blass und plötzlich wieder
flammend rot. Nicht einmal ein Rind, das von einer Bremse gestochen ist, leidet
solche Not. Starrer Blick, schwimmende Tapeten. Gewiss bin ich jetzt krank,
aber was es für eine Krankheit ist, weiß ich nicht: Ich fühle Schmerz und habe
doch keine Wunde; traurig bin ich, und doch ist mir kein Schaf umgekommen. Sie
schließt die Augen, und die
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