Schischkin, Michail
Zehen ertasten die Stoßkante zwischen den Tapeten.
Frage: Aber es
ist doch Winter. Der Frost dringt durch bis zum Häkchen am Büstenhalter. Und
einen Schneemann will keiner heiraten, auch wenn es eine Frau ist.
Antwort: Das Mlywo
hat etwas, das ist dem Winter über. Sie haben sich Tausend Jahre nicht gesehen.
Immer nur so ein Sehnen! Plötzlich begehrten sie einander. Und der Eisgang
brach los. Eines Nachts wurde das ganze Städtchen wach von diesem Rollen und
Grollen: Das Eis trieb den Fluss hinab. Am Morgen kamen alle zu sehen, wie der
Weg, auf dem sie gestern noch spaziert waren, sich in Bewegung gesetzt hatte.
Drei Tage lang krachte das Eis und knirschte, dicke, glasige Schollen, die
zerbarsten, sodass kiloschwere Splitter flogen; sich aufbäumten,
übereinanderrutschten, ans Ufer gekrochen kamen, nahe daran, die Häuschen wegzuschieben,
die sich hinter der Uferkante duckten. Der Eisgang türmte Klippen auf, die von
Wagehälsen bestiegen wurden; sie erklommen die obersten Spitzen und kamen
vorübergeschwommen wie auf einem riesigen, funkelnden Schiff. Und unter diesen
verwegenen Typen war Chloe. Sie hatte die Mütze vom Kopf gerissen, die Haare
flatterten im Wind.
Frage: Während
sie auf der Eisscholle vorübertrieb, flog Chloe die Mütze weg. Chloe der Mütze
hinterher. Daphnis Chloe hinterher.
Antwort: Ich sehe
schon, das ist immer noch nicht das Wahre.
Frage: Man muss
nichts dazuerfinden. Es ist alles schon da. Winterland, Mlywo...
Antwort: Wenn es
doch aber genau so gewesen ist? Sie brach ein, er zog sie am Kragen aus dem
Wasser, ihr Retter. Als Säuglinge waren sie beide vertauscht worden. Ein
prophetischer Traum hatte ihnen die Zukunft gewiesen, vom ersten bis zum
letzten Schnee. Bei ihr war es irgendeine Dame, die ihr an der Tür zum
Schulhort auflauern, wortlos einen Ring in die Hand schieben und in einem
teuren Auto davonfahren würde. Ihm, während er noch aufrecht unter dem Tisch
hindurchliefe, würde ein Haufen Geld von unbekannt aufs Sparbuch überwiesen,
aber dann kämen die Reformen, und alles wäre Asche. Die Kinder wüchsen heran,
die Hormone begännen verrücktzuspielen. Liebe, Triebe, Hiebe. Sie würde bei
einem Schafe schwören, dass sie sich aufheben wird für ihn, und zu ihm
sprechen: Du aber schwöre mir bei dieser Herde und bei jener Geiß dort, die
dich genährt hat, Chloe nicht zu verlassen, solange sie dir treu bleibt,
sündigt sie aber gegen dich, dann sollst du sie fliehen, hassen und totschlagen
wie einen Wolf. Da fasst er mit der linken Hand eine Ziege, mit der anderen
einen Bock und schwört, solange ihn Chloe liebe, wolle auch er sie lieben, wenn
sie aber einen andern dem Daphnis vorziehe, wolle er nicht sie, sondern sich
selbst umbringen. Da freut sie sich, und jetzt glaubt sie ihm, wie Mädchen es
eben tun und weil sie als Hirtin die Ziegen und Schafe für die eigentlichen
Götter der Schäfer und Ziegenhirten hält. Dann werden die beiden durch Räuber
entzweit, und Chloe heiratet den Räuberhauptmann, der eine Warze auf der
Oberlippe hat. Im Winter wird sie Tauben füttern - es herrscht Frost, die
Taubenbeine sind wie Zweiglein so dünn. Daphnis hinwiederum, in der Annahme,
Chloe wäre tot - er hat ja die Alarmklingel der Straßenbahn gehört, das rostige
Kreischen der Bremsen, die Schreie der Passanten, hat den Körper in einer
Pfütze Blut liegen sehen, reglos, nur eine Hand zuckte noch -, begibt sich auf
Wanderschaft, kommt in die Hauptstadt, wird das Zimmer mit einem
Medizinstudenten teilen, der von früh bis spät über seinen Büchern sitzt,
zwischendurch dann und wann den ungeküssten Hirtenleib abhört und abklopft. Den musculus cremaster wird Daphnis sich merken. Einmal
wird er auf seinem Klappbett liegen, die Hände unter dem Kopf verschränkt, auf
die Eisblumen am Fenster schauen, sonnenfunkelnde Farnwedel und Hieroglyphen,
und an sein Volk denken: dass es wohl jener mit den Hörnern im Gestrüpp
festhängende Widder sei, den Abraham an Isaaks statt geopfert; derweil kommt
der Mitbewohner verdrossen von der Prüfung zurück, er konnte einen bestimmten
Muskel nicht finden, und der Professor habe ihn noch verhöhnt: Erstaunlich,
erstaunlich, so ein großer Muskel, und kommt bei Ihrer Leiche nicht vor,
gratuliere, junger Mann, diesen Fall hatten wir noch nie! Bald darauf wird
Daphnis von Lykainion begehrt werden, der Krankenschwester, die medizinischen
Alkohol aus dem Operationssaal stiehlt und auf dem Schwarzmarkt tauscht. Sie
hat einen langen Zopf.
Frage:
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