Schischkin, Michail
ertappe mich irgendwann dabei, dass ich mich in die dargestellten Figuren
hineinfantasiere. In ihre Haut schlüpfe. Die Zarentochter Sofia zum Beispiel.
Ich stelle mich im Zimmer auf wie sie, lasse das gelöste Haar auf die Schultern
fallen, verschränke die Arme vor der Brust, grolle auf ich weiß nicht wen. Sie
ist eingesperrt - genau wie ich manchmal im Kinderzimmer, wenn ich etwas
angestellt habe. Nur der erhängte Strelitze vor dem Fenster macht mir Bange.
Ich frage Sascha nach den Strelitzen. Er erzählt mir alles haarklein: von dem
Aufstand, vom Fenster nach Europa. »Kapiert?« - »Jaja.«
Es war
erstaunlich, was ich damals alles kapiert zu haben glaubte. Jetzt hingegen, als
alte Frau, die ihr Leben hinter sich hat, kapiere ich gar nichts mehr. Sieht so
aus, als wäre das Leben ein Weg vom Verstehen zum Nichtverstehen.
Was den
erhängten Strelitzen angeht, muss ich keine Angst haben, meint Sascha noch:
Strelitzen gibt es längst keine mehr, der Kopf wird niemandem mehr abgehauen,
die Zeiten haben sich geändert.
Wie Sascha
ermordet wurde, darüber ein andermal.
Antwort: Wieso ein
Handschuh?
Frage: Die
Geschichte ist die Hand, Sie sind der Handschuh. Sie werden von den Geschichten
an- und ausgezogen. Geschichten sind Lebewesen, müssen Sie wissen.
Antwort: Und was
ist mit mir?
Frage: Sie gibt
es noch nicht. Ein weißes Blatt, sehen Sie.
Antwort: Aber hier
bin ich doch! Extra hergekommen. Ich sitze vor Ihnen. Gucke aus dem
verschneiten Fenster. Der Schneesturm hat sich gelegt. Alles weiß! Ich sehe die
Fotos an der Wand: Da halten Sie einen bei den Kiemen. Und diese Landkarte,
seltsam. Ich kann die Umrisse der Erdteile gar nicht erkennen. Mehr Igel als
Karte. Hat sich durch das Erdbeer- und Heidelbeergestrüpp gekämpft, Beeren auf
die Stacheln gespießt.
Frage: Bis jetzt
ist hier noch niemand.
Antwort: Wie,
niemand? Und wer wirft dort den Schatten an die Wand? Sehen Sie die gespreizte
Hand? Jetzt einen Hundekopf. Wau, wau! Und wenn wir noch eine Hand
dazunehmen... ein fliegender Adler, schauen Sie. Und hier ein Wolf, der mit den
Zähnen klackt.
Frage: Alles
nicht das Wahre. Hund, Wolf, das ist alles nicht echt. Ihre Geschichte ist der
Bräutigam, und Sie sind die Braut. Die Geschichten suchen sich einen Menschen
aus und gehen um mit ihm.
Antwort: Aha. Na
gut. Dann schreiben Sie. Ich wollte meiner Frau nichts davon sagen, aber sie
hat gespürt, dass etwas nicht stimmt. Ich gab mir Mühe, so zu tun, als wäre
nichts, als wäre alles im Lot. Dann stellte sich heraus, dass sie durch eine
Freundin schon von allem wusste. Ihr hatte meine Frau am Telefon erzählt, ich
käme abends immer so schlecht gelaunt nach Hause, sie kriegte nur bissige
Antworten von mir. Ja, weißt du denn nicht?, eröffnete ihr die Freundin, dein
Mann sitzt in der Tinte, er hat Schulden gemacht, und das nicht zu knapp, die
Uhr tickt schon... Sie sagte zu mir kein Wort, lief los auf eigne Faust, suchte
Leute auf, wo sie lieber nicht hätte hingehen sollen, dort wurde ihr bedeutet,
sie solle sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angingen. Während ich
mich bis zuletzt beherrschte, auf alle ihre Fragen nur Witze machte, es irgendwie
sogar fertigbrachte, ihr vorzugaukeln, alles wäre halb so wild. Aber dann kam
der Zusammenbruch, ich betrank mich, um zu vergessen, und hinterher ging es mir
so dreckig, dass alle Dämme brachen und ich auspackte: dass ich das Geld von
der einen Bank abgehoben und auf eine andere überwiesen hatte, die von
irgendwelchen Tschetschenen ausgenommen wurde, sodass ich mir, um schnellen
Umsatz zu machen, woanders Geld leihen musste, dabei gelinkt wurde... Sie
verstand nur so viel, dass alles Geld futsch war, dass von Tag zu Tag mehr Zinsen
aufliefen und dass man mir ans Leder wollte. Was hätten die davon, dich
umzubringen?, rief sie verzweifelt. Von Toten kriegt man doch erst recht nichts
zurück! - Du begreifst anscheinend gar nichts!, brüllte ich zurück. Dabei hatte
ich sie nie zuvor angebrüllt. Wohnung verkaufen, Datscha, Auto - alles
zwecklos, es hätte bei Weitem nicht gelangt, und Freitag war Zahltag.
Frage: Nicht das
Wahre.
Antwort: Verstehe.
Frage: Woher
kommen Sie? Aus einem Land, wo in den Betten gestöhnt und ansonsten geschwiegen
wird? Wo es nur schmutzige Wörter gibt und keine sauberen?
Antwort: Ich möchte
einfach nur frei sein. Frei vom Schicksal, frei von Vaterländern.
Frage: Ist denn
schon Freitag?
Antwort: Ja.
Frage: Wem
gehörte die Bank: den Tungusen oder den
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