Schischkin, Michail
steckte, damit er nicht umfiel; das roch nach irgendeinem Betrug, zumal
die Museumsführerin nicht müde wurde zu betonen, es handele sich bei allem, was
da stand, nur um Kopien.
Vor der
Kopie des Laokoon sagte sie: »Seht nur, wie wunderbar der antike Bildhauer das
Leid in das Antlitz des Vaters gemeißelt hat, der mit ansehen muss, wie seine
beiden Söhne sterben!«
Vom
Original hieß es, dass es sich in Italien befinde, im Vatikanischen Museum,
und der Dolmetsch wusste noch, wie die Galpetra geseufzt hatte: »Hach, wenn man
da mal durchs Schlüsselloch linsen könnte...«
Ob es noch
Fragen gebe, wurde gefragt, und der künftige Dolmetsch in seiner Schuluniform
mit den blank gewetzten Knien und Ellbogen hatte eine: »Wieso werden denn hier
nur Kopien gezeigt? Im Museum muss doch alles echt sein!«
Alles
Echte sei nun mal in Italien, hatte die Führerin erklärt, und außerdem seien
diese Kopien äußerst exakt, praktisch so gut wie Originale, und mit diesen
Worten führte sie die Gruppe in den nächsten Saal.
Und nun
war der Dolmetsch in Rom, und wieder sah er sich umgeben von Kopien: die
Skulpturen in den Vatikanischen Museen ebenso wie Berninis Engel auf der Ponte
Sant'Angelo und Marc Aurel auf dem Hügel des Kapitals und der ägyptische
Obelisk vor der Santa Trinitä dei Monti - alles Kopien, und das Echte musste
man wieder woanders suchen.
Selbst der
Tiber schien nur eine schlechte Kopie zu sein von dem Original, das nicht mehr
da war. Von der Brücke schauten Isolde und der Dolmetsch hinab auf brackiges
totes Wasser, auf die flachen Randstreifen mit der dicken, rissigen Schlammkruste,
und irgendwie wollte es einem nicht in den Kopf, dass dieser rastlose braune
Strom mit den grauen Schaumkronen jener Tiber sein sollte, in dem eines
sonnigen Oktobertages Konstantin der Große unter Zuhilfenahme des Kreuzes den
Heiden Maxentius ertränkt hatte, worauf das Christentum die Welt eroberte. In
dieser Jauche?
Und es
stellte sich heraus, dass auch der Dolmetsch nur die Kopie eines verlorenen
Originals war.
Das
Reiseführerkapitel über den Lateran lockte mit der Heiligen Treppe, die aus
dem Palast des Pontius Pilatus stammt, und den Häuptern von Petrus und Paulus,
die in der päpstlichen Basilika aufbewahrt sind, also brachen sie dorthin auf.
Stiegen in den Schacht der Metro hinab, wo man kaum Luft bekam, und Isolde
sagte, sie sei müde und ginge eigentlich lieber wieder in irgendeinem Park
spazieren - so wie am Tag zuvor, als sie in der Villa Borghese gewesen waren.
In einer abgelegenen Allee irgendwo an der Rückseite des Stadions hatten sie
eine freie Bank gefunden, der Dolmetsch legte sich längs, den Kopf auf Isoldes
Schoß, die Wange in ihren weichen Bauch gedrückt. Isolde wühlte in seinen
Haaren. Wind kam auf, die Schatten der Äste flogen über ihr Gesicht, ihre
nackten Schultern, über das Gras, den sandigen Weg, den Marmor der Statuen. Im
Liegen las der Dolmetsch aus dem Reiseführer die Passage über einen
Triumphbogen vor: dass der eine Kaiser dafür Statuen und Reliefs vom
Triumphbogen eines anderen geklaut hatte.
»Schau,
dort ist auch ein Triumphbogen!«
Da standen
Pinien: dicht aneinandergedrängt, Schulter an Schulter, unter ihren Achseln der
Himmel.
Das war
den Tag zuvor gewesen, nun waren sie unten in der Metro, und Isolde fragte:
»Liegt dir viel daran, diese Treppe und diese Köpfe zu sehen?«
»Ja.«
»Und du
meinst, die sind echt?«
»Davon
würde ich mich gern überzeugen.« Sie bestiegen den graffitibesprühten
U-Bahn-Wagen, in dem es stickig war und rappelvoll.
Während
der Fahrt erzählte Isolde vom Religionsunterricht damals in der Schule und wie
sie das alles gehasst hatten. Der Dolmetsch wiederum erzählte, sie hätten
antireligiöse Propaganda in der Schule gehabt. Und ausgerechnet bei besagter
Galpetra! So wusste der Dolmetsch schon als Kind Bescheid, dass es keinen Gott
gab - weshalb ihm, dem Schüler von damals, geplagt von Pickeln, frühzeitiger
Behaarung, fehlender Liebe und der Angst vor dem Tod, so viel daran lag, ihn zu
finden. Oder wenigstens etwas Ähnliches. Die Klasse starb jedenfalls vor
Langeweile, wenn die Galpetra sich darüber ausließ, dass Gott eine Erfindung
der Popen sei, um naiven, ungebildeten Menschen leichter blauen Dunst vormachen
zu können, und das Jüngste Gericht habe man sich ausgedacht, um anderen die
Sünden, die man selbst begeht, zu verbieten, und dergleichen mehr, was in
diesen Stunden eben so gesagt werden musste. »An den lieben Gott
Weitere Kostenlose Bücher