Schischkin, Michail
glauben, das
bringen nur alte Weiber fertig«, sagte die Galpetra. »Das Christentum ist eine
Religion von Sklaven und Selbstmördern. Ein Leben nach dem Tode gibt es nicht
und kann es nicht geben: Alles Lebendige stirbt einmal, und jegliche
Auferstehung ist ein Ding der Unmöglichkeit. Gäbe es Gott, so gäbe es den Tod
nicht, und da es ihn gibt, kann es keinen Gott geben - das ist die einfache
Logik.« Isolde lachte. Im Religionsunterricht sei das gerade Gegenteil behauptet
worden: Gott existiert! - aber sterbenslangweilig sei auch das gewesen.
Und dann
standen Isolde und der Dolmetsch vor dem Gebäude mit der Inschrift Sancta
sanctorum, gingen hinein. Gleich unten, links vom Eingang, gab es ein
Modell des Palastes von Pontius Pilatus unter Glas, an dem sich erkennen ließ,
wo genau die Treppe gewesen war. Man hatte sie von Jerusalem nach Rom
überführt, die Stufen waren mit Holz verkleidet, und an den Stellen, wo das
Blut Christi auf sie getropft war, gab es Glasfenster. Isolde und der Dolmetsch
standen unter der Treppe und schauten zu, wie die Menschen niederknieten und
auf Knien die Treppe erklommen. Jeder kroch auf seine Art. Manche hopp-hopp,
an anderen vorbei, manche wiederum lange auf jeder Stufe verweilend, die blank
polierten, halb schon durchgewetzten Planken mit der Stirn berührend und jede
einzelne küssend. Eine Frau schaute unentwegt hinter sich und zog ihren Rock
zurecht. Eindrucksvoll war ein Mädchen, ganz jung noch, das im Rollstuhl
herangetragen wurde; man half ihr auf die unterste Stufe, und von da kraxelte
sie aus eigener Kraft, mit gespreizten Beinen, man sah, wie schwer ihr jede
Bewegung fiel. Nach ihr kam eine Gruppe Schüler, die fröhlich lärmend, unter
allgemeinem Schubsen die Treppe erklomm; den Staub der Sohlen an den
Nachfolgenden abzuwischen schien dabei besonderen Spaß zu machen. Und während
er mit Isolde vor dieser Treppe stand und zuschaute, wie die Schüler das
invalide Mädchen überholten, tippte jemand dem Dolmetsch an die Schulter.
Zunächst achtete er nicht darauf, in der Menge der Touristen wurde man ja
immerzu angestoßen. Doch die Berührung wiederholte sich. Er wandte sich um und
erblickte die Galpetra. Sie trug immer noch dieselbe Mohairmütze und dasselbe
lila Strickkostüm. Sogar die Stiefel standen wieder halb offen und steckten in
Museumspantoffeln. Derselbe Schnurrbart, derselbe Bauch. Sie wies mit dem Kopf
in Richtung Treppe.
»Worauf
wartest du noch? Kriech los!«, befahl sie. Und fügte mit tadelndem
Kopfschütteln hinzu: »Du wolltest mir damals nicht glauben...«
Der
Dolmetsch konnte nicht anders, als das Erlebnis sogleich Isolde zu berichten,
doch die verstand nicht.
»Du hast
eine Bekannte getroffen?«
Da war die
Galpetra schon wieder weg.
Sie gingen
sich die Köpfe anschauen.
Während
sie den Platz überquerten, tönte von irgendwoher Musik, ein Liedchen auf
Italienisch mit dem Kehrreim amore, amore, amore, und den
Dolmetsch mutete es schon seltsam an, dass sie jetzt gleich den Kopf (oder
immerhin einen Schädelknochen, das war kein großer Unterschied) jenes Mannes
zu sehen bekämen, der Ihm während der vierten Nachtwache entgegengegangen war
- über den See: den Fuß über den Bordrand gehoben hatte und auf die Welle
gesetzt.
In der
Kathedrale drängten sich die Touristen wie überall, aus den Lautsprechern
murmelte es Latein. Sie ließen sich in der Menge treiben, der Dolmetsch hatte
keine Ahnung, wo der Kopf sein mochte. Die Strömung schob sie zum Kiosk am
Eingang. Isolde fragte die Verkäuferin auf Italienisch. Die zeigte auf eine der
Postkarten vor sich: darauf ein Altar, turmartig, ganz in Gold und Marmor, wie
eine Illustration zu dem russischen Märchen vom goldenen Hahn. Der Fingernagel
der Verkäuferin, grün und voller Sternenflitter, tippte auf die Karte und
zeigte nach oben: zum Altar gehen und nach oben blicken, sollte das wohl
heißen.
Jetzt
begriff der Dolmetsch auch, warum sie nicht gleich hatten sehen können, wonach
sie suchten: Sie waren durch einen Seiteneingang hereingekommen, nicht durch
das Hauptportal. Nun drängten sie von der Mitte her durch die Menge in Richtung
Altar. Dort waren im zweiten Geschoss des Märchenturms, hinter einem
goldverschnörkelten Gitter, tatsächlich zwei Büsten zu sehen. Der Dolmetsch
versuchte genauer hinzusehen, doch da ließ sich nur vage etwas rosig
Pausbäckiges, Fettglänzendes, Schwarzmähniges erkennen. Die Lautsprecher waren
zum Italienischen übergegangen, was gleich einen deutlich
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