Schischkin, Michail
bewährte Methode. Sie
schloss die Augen und schnurrte.
»Hat er sich das
ausgedacht?«, fragte er sie.
Das
Schnurren hörte auf, sie öffnete die Augen.
»Was
meinst du?«, fragte sie.
In dem
Moment fuhr die Metro ein, graffitiüberzogen. Isolde hatte seine Frage nicht
verstanden oder nicht verstehen wollen, und der Dolmetsch ließ es dabei
bewenden.
Sie irrten
durch die Vatikanischen Museen und landeten in einer langen, menschenleeren
Galerie. Weiße Skulpturen reihten sich längs der Wände. Leblose Leiber: Arme,
Beine, Köpfe, Brüste, Bäuche, sämtlich aus der Erde gegraben und nun zur
Identifizierung hier aufgestellt. Vasen, Sarkophage, Reliefs - und wieder
Menschenkörper, manche ohne Augen, ohne Arme, ohne Beine, kastriert. Oder mit
Blättern vor den Stellen, wo die Geschlechtsorgane hingehörten. Was nicht zu
bemänteln gewesen - mit dem Hammer abgeschlagen. Einem dieser muskelbepackten
Blinden fasste Isolde - nicht ohne sich umzusehen, ob jemand schaute - an die
Stelle, wo nichts mehr war.
»Diese
Idioten! Was müssen sie das Leben gehasst haben. Warum bloß?«
Irgendwann
waren alle diese Statuen Götter oder Menschen gewesen, dann hatten sie sich zu
Salzsäulen verwandelt, nun standen sie hier. Marmorleichen in Reih und Glied,
wie eine Ehrenwache zum Empfang im Totenreich. Isolde fiel ein, wie sie zu
erwecken waren: indem man jedem eine Geschichte anhängte. »Schau, der da war
abergläubisch. Zog strikt zuerst die linke Sandale an und dann die rechte. Der
Arzt hat ihm gegen die Schwindsucht eine Eselsmilchkur verschrieben, jeden
Morgen um sechs trank er ein großes Glas. Außerdem war sein Hintern stark
behaart.« Auf die Art dachten sie sich für jeden etwas aus. Dieser hier zum
Beispiel - eine römische Kopie vom verlorenen griechischen Original - sang sehr
gern; tat er es, blähten sich seine Nasenflügel. Einmal, auf dem Nachhauseweg,
sang er zufrieden vor sich hin, da kam ihm einer entgegen und sagte: Du fährst
hier singend deiner Wege und weißt nicht, dass dein Haus abgebrannt ist mitsamt
der Frau, alles futsch. Und als Kind hatte ihm seine Mama beigebracht: Bevor du
aufs Klo gehst, such dir Blätter von Kletten und anderen Büschen am Wegrand,
reiß sie ab und nimm sie mit. Und die da - auch eine römische Kopie vom
verschollenen griechischen Original - liebte einen verheirateten Mann und
scheute sich davor, mit ihm glücklich zu sein, vermochte ihr Glück nicht zu
genießen, weil sie wusste: Jedes Glück hat seinen Preis, und als sein Kind
krank wurde, wusste sie gleich, woher das kam. Und der Krieger dort, auch er
eine römische Kopie, kehrte unversehrt heim aus dem Krieg - die Frau war froh,
dass er am Leben war, die Kinder freuten sich über die Geschenke. Und Zähne
hatte er, damit hätte er einen Nagel durchbeißen können. Und einmal schlug er
sich einen Fingernagel blau. Der Nagel wuchs nach, das Blaue kroch nach vorn.
Und auf einmal wünschte er sich innig: Wenn das Blaue den Rand des Fingernagels
erreicht, möge etwas Schönes passieren. Es klappte nicht. Das Blaue erreichte
den Rand des Fingernagels nicht.
So liefen
sie herum und erweckten die Toten. Und nun ging dem Dolmetsch der Gedanke nicht
aus dem Kopf, Isolde könnte dieses Spiel schon einmal mit Tristan gespielt
haben, und er hätte es sich ausgedacht, Arm in Arm wären sie durch die nicht
enden wollende Galerie mit den toten Standbildern gelaufen und hätten den
Marmortorsi kleine Portionen Leben eingehaucht.
Es gab
dort auch einen Sarkophag, darauf lagen Mann und Frau, seitlich aufgestützt,
Kopf an Fuß. Er mit gestutztem Bart, sie mit einer Frisur aus vielen kleinen
Löckchen. Lächelnd blickten die beiden sich an. Eben hatten sie einander die
lebensmüden Füße massiert. Nun würden sie gleich miteinander einschlafen und
gemeinsam wieder erwachen.
Nahezu
alle Skulpturen waren Kopien irgendwelcher verloren gegangener Originale. Auch
der Apollo von Belvedere. Der für den Dolmetsch natürlich nur eine Kopie jenes
verschneiten Apollos in Ostankino war, den er einst mit Schneebällen beworfen
hatte.
Der
Dolmetsch erzählte Isolde von Galpetra und dem Apollo von Ostankino, sie lachte
darüber.
Monat für
Monat hatte die Galpetra ihre Klasse in irgendein Museum geführt, meistens ins
Puschkin-Museum an der Wolchonka. Einmal waren sie am David vorbeigekommen,
die Augen der Mädchen hingen an seiner Leistengegend, sie wisperten und
kicherten, und er war unangenehm berührt von dem Metallbolzen, der in Davids
Rücken
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