Schischkin, Michail
richtet. An Wangen und Händen die winzigen Stiche
spüren - sie hat sich vor Tagen die Beine rasiert, jetzt sind die Haare wieder
ein wenig gesprossen und stacheln. Und nachdem Isolde in die Wanne gestiegen
ist und die Dusche angestellt hat, sieht sie aus wie in Wasser gekleidet.
In jener
Nacht vor dem Einschlafen massierten sie sich gegenseitig die pflastermüden
Füße. Dazu lagerten sie, seitlich aufgestützt, Kopf an Fuß. Der Dolmetsch rieb
die duftende Lavendelsalbe in ihre Fersen, in die Narben an ihren Beinen -
Spuren der Operation nach dem Unfall -, und Isolde erzählte, wie sie als kleines
Kind auf einer Autofahrt mit ihren Eltern durch die Hitze der persischen Wüste
gebettelt habe: »Mama, hol mir Kälte!« - und die Mama habe die Hand aus dem
Fenster geschoben, eine Weile draußen gelassen und dann eine Handvoll Außenluft
in das aufgeheizte Wageninnere geholt, die sie auf dem Nacken des Mädchens
verstrich.
Im Schlaf
warf Isolde die Decke von sich, ihre schweißbedeckte Haut glänzte im Mondlicht.
Und wieder dachte der Dolmetsch darüber nach, wie viel es eigentlich braucht
zum Glücklichsein: die leichte Trunkenheit - vom Grappa, von Rom, von der
Liebe, vom hellen Mond vor dem Fenster, der durchhängt, als wäre er der Schwanz
einer Eidechse, die sich hinter der Wolke wie unter einem Blatt verkriecht;
neben dieser Frau einschlafen und wissen, morgen ist wieder ein Tag, und noch
dazu ein Tag in Rom, wo man spürt, die Zeit ist knapp und kein Augenblick zu
verlieren, nichts wie hinein ins Gewühl dieser Stadt!
Jene Nacht
wurde der Dolmetsch von Mücken gepiesackt und erwachte. Ihr Sirren und das
Jucken der Stiche verhinderten, dass er wieder einschlief. Er machte Licht,
ging mit dem Stadtführer auf Jagd, hinterließ blutige Flecken an der Tapete.
Danach konnte er erst recht nicht einschlafen. Er hob die Decke vom Boden auf,
wickelte sich hinein. Lehnte sich über den Fensterstock und hielt den Kopf
hinaus auf die Straße, die da, menschenleer noch und endlich kühl, im
Dämmerlicht vor sich hin träumte. Gegen Morgen regnete es wieder, alles glänzte
frisch, im nassen Kopfsteinpflaster spiegelten sich Straßenlampen,
Schaufenster, Leuchtreklamen, das Aushängeschild der Bar. Und alles roch;
selbst Fensterstock und Hauswand verströmten ganz spezielle römische Odeurs.
Der
Dolmetsch dachte an Tristan.
Vor dem
Dolmetsch war Tristan an Isoldes Seite gewesen. Sie hatten sich geliebt und
waren auch immer nach Italien in den Urlaub gefahren.
Einmal auf
der Fahrt in die Ferien geschah der Unfall. Auf der Strecke zwischen Orvieto
und Todi, oberhalb des Tibers, wo es viele Kurven gibt. Aus einer kam ihnen ein
Lastauto entgegengeflogen.
Tristan
fuhr. Er war sofort tot. Vom Lenkrad zerquetscht.
Isolde
überlebte. Mit sechzehn Brüchen.
Es
vergingen einige Jahre, und sie heiratete den Dolmetsch; jetzt waren sie es,
die einander liebten und gemeinsam nach Italien in den Urlaub fuhren.
Und einmal
setzte sich der Dolmetsch an den Computer, um irgendeine Übersetzung zu machen.
Damals hatten sie noch einen gemeinsamen Computer. Auf der Liste der zuletzt
geöffneten Dateien entdeckte der Dolmetsch eine mit merkwürdigem Namen. Isolde
hatte den Abend zuvor damit gearbeitet. Der Dolmetsch wusste, dass man nicht
heimlich in Briefen oder Dateien anderer Leute liest. Und öffnete die Datei. Es
war ein Tagebuch. Ihr Tagebuch.
Erst
wollte der Dolmetsch die Datei schnell wieder schließen. Dann fing er an zu
lesen.
Es war ein
seltsames Tagebuch. Isolde trug nicht jeden Tag etwas ein, nicht einmal jeden
Monat. Sondern nur, wenn es ihr schlecht ging.
Der
Dolmetsch las die Einträge, weil er wissen wollte, was der Mensch, mit dem er
das Leben teilte, vor ihm zu verbergen hatte.
In Zeiten,
da zwischen ihnen alles im Lot war, hatte sie nichts eingetragen. Solche Tage
kamen in dem Tagebuch einfach nicht vor. Nur wenn es wieder einmal nicht zum
Aushalten schien, wenn sie an ihrem Leben mit dem Dolmetsch zu ersticken
drohte, setzte sie sich an den Computer, öffnete die Datei und schüttete ihr
Herz aus. Streitigkeiten, die der Dolmetsch längst vergessen hatte, lebten hier
fort, so wie sie niedergeschrieben worden waren: frisch erlebt, unverwunden,
unverziehen.
Merkwürdig
außerdem, dass dieses Tagebuch an Tristan gerichtet war.
Der Tote
erfuhr auf diesen Seiten Isoldes Liebe, während sie für den Dolmetsch nichts
als Schmähungen, Gereiztheit und Verbitterung übrig hatte.
Worte,
einander an den Kopf geworfen, um
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