Schischkin, Michail
hinkte davon. Sie hätten zur Metro
gemusst, Isolde ging in die entgegengesetzte Richtung, zurück zum Lateran.
Der
Dolmetsch wollte ihr nachstürzen, sie aufhalten, bei der Hand nehmen -
stattdessen wandte er sich um und ging auf das Kolosseum zu. Lief dahin und
versuchte sich einzureden, dass alles halb so schlimm war - sie konnten
einander ja nicht entrinnen, abends im Hotel würden sie sich wiedersehen.
Der Gehweg
war mit Bonbonpapieren, alten Fahrscheinen, zerquetschten Plastikflaschen
übersät. Der Dolmetsch hielt die Fetzen des Stadtplans in Händen. Er schmiss
sie weg.
29.
September 1914. Montag
Heute
hatte ich einen grässlichen Traum! Man schämt sich, ihn niederzuschreiben. Ich
bin den Flur von unserem Gymnasium entlanggeschwebt - und zwar nackt.
Am Morgen
war ich mit Tala bei den Ignatjews. Wir haben wieder Mullbinden geschnitten und
gewickelt, aber nicht mehr von Hand wie früher. Wir bekamen kleine Maschinen
zum Bindenschneiden, auch zum Wickeln gibt es jetzt ein spezielles Gerät, nur
verpackt wird noch von Hand. Alles sehr bequem, und man kann viel mehr
schaffen!
Draußen
ist es kalt, mal Sonne, mal Regen.
Ich habe
gelesen, was ich heute vor einem Jahr hier eintrug. Was war ich da noch für ein
Kind!
30.
September 1914. Dienstag
Mascha hat
von Boris einen Brief bekommen und las ihn uns vor. Nicht alles. Manches, und
wahrscheinlich das Interessanteste, wird sie weggelassen haben, denn zu hören
bekamen wir nur ausführliche Beschreibungen von Schulstunden, den Tagesablauf,
wie das Essen ist und wie das Wetter. Sein Vater und er haben ihren Namen
ändern lassen. Sie heißen jetzt nicht mehr Müller, sondern Melnikow*
[abgeleitet von russ. melnik, der Müller
(Anm. d. Ü.)]. Sobald Boris als Marineoberfeldwebel entlassen wird, will er
Mascha zu sich holen und sie heiraten. Als sie beim Vorlesen an diese Stelle
kam, wurde sie ganz rot! Der Abend war herrlich, wir haben noch lange gesessen
und geredet, und in der Nacht kam Mascha tränenüberströmt zu mir ins Bett
gekrochen - sie hatte geträumt, Boris ginge mit seinem Schiff unter. Ich wollte
sie trösten und musste selber heulen.
Aber wie
könnte der liebe Gott einem alles nehmen, ehe er überhaupt etwas gegeben hat?
Das kann
natürlich nicht sein.
Wie ich
Mascha beneide - sie liebt ihren Boris so sehr!
1. Oktober
1914. Maria Schutz und Fürbitte
Liebe ist
ein Ich-weiß-nicht-was, das ich-weiß-nicht-woher kommt und Ich-weiß-nicht-wie
endet. Madeleine de Scudery Morgen
fängt endlich die Schule wieder an. Ich hatte solche Sehnsucht nach Mischka,
Tusja und allen, selbst unseren Lehrern! Die Räumlichkeiten des
Bilinskaja-Gymnasiums werden als Lazarett gebraucht, darum gehen wir nun in die
Petri-Realschule in der Bolschaja Sadowaja, gegenüber vom Großen Moskauer
Hotel. Unterrichtet wird umschichtig, die Gymnasiastinnen vormittags, die
Realschüler nachmittags.
Heute
morgen schien noch die Sonne, jetzt regnet es kräftig.
3. Oktober 1914. Freitag
Auf der
Schulbank fand ich meine Initialen mit dem Messer eingeritzt. So was Blödes!
Die
Mädchen schreiben sich Briefchen mit den Realschülern, die sie unter ihre Bänke
legen. Tala und ich, wir finden das blöd! Alle reden nur von den
Nachmittagsklassen und wer in wen verknallt ist. Alle miteinander fliegen sie
auf Terjochin. Dieser Pfau! Dieser Hohlkopf! Ich habe keine Lust, mehr Worte
darüber zu verlieren.
Mascha ist
in die Gemeinde der Barmherzigen Schwestern eingetreten und hat einen
Achtwochenkurs belegt. Sie will unbedingt an die Front, zur kämpfenden Truppe,
und hat Angst, dass sie zu spät kommt: dass, während sie noch die Ausbildung
macht, der Krieg schon wieder aus sein könnte. Sie lernt, Verbände anzulegen,
läuft ständig ihren Mitmenschen hinterher und will sie verbinden. Keiner in der
Familie hat Lust dazu. Also plagt sie unsere arme Njanja damit. Die sitzt
gerade wieder fügsam mit verbundenem Kopf auf ihrem Küchenschemel und geduldet
sich, bis Mascha den Verband mit dem in ihrem Buch verglichen hat.
Gestern
hatte Mascha ihren ersten Tag im Lazarett. Als sie nach Hause kam, hat sie sich
eine Ewigkeit gewaschen und mit Kölnischwasser bespritzt. Wollte den Krankenhausgeruch
loswerden. Bei Tisch hat sie nichts gegessen. Sie versprach Tala und mir, dass
sie uns einmal ins Hospital mitnehmen will. Den Verwundeten etwas vorzulesen
und vorzusingen wäre erlaubt.
6. Oktober
1914. Montag
Heute kam
ein Brief von Njusja aus Petrograd. Sie schreibt über
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