Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
wäre weniger schlimm, wenn sie toben und schreien würde. Aber diese höfliche Ruhe und der starre, fixierende Blick sind mir unheimlich. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Um die Situation zu entspannen, beginne ich, einen Wecker auszupacken, den sie sich gewünscht hatte. Lena nimmt ihn in die Hand, betrachtet ihn von allen Seiten und gibt ihn mir dann höflich zurück. »Nun packen Sie den Wecker ein und nehmen ihn wieder mit. Und dann können Sie nach Hause gehen. Gehen Sie jetzt bitte!« Ihr Ton wird streng. Sie schaut mir gerade in die Augen, dreht sich um und verlässt den Raum. Ich bleibe wie erstarrt sitzen, und mir kommen die Tränen. Aber der finstere Blick, den Lena mir zuwirft, als sie sich umdreht, zwingt mich, aufzustehen und den Raum zu verlassen. Ich habe das Gefühl, mein Blut gefriert mir in den Adern. Lange sitze ich danach weinend im Auto.
Aber ich lerne auch die bunte und kreative Seite einer Psychose kennen. Lena und die anderen jungen Patienten müssen in die Schule gehen. Im Geschichtsunterricht bekommt Lena die Aufgabe, einen Vortrag über die Aborigines zu halten. Selbst die Lehrerin ist beeindruckt, als Lena ihren fünfzehnminütigen Vortrag in der Sprache der Aborigines hält. Es gelingt Lena beinahe, den Eindruck zu erwecken, als ob sie die Sprache der Aborigines wirklich beherrscht. Auch in anderen Phasen zeigt sich die ungeheure Kreativität, die in dieser Krankheit steckt oder die durch diese Erkrankung intensiviert wird. An manchen Tagen sind alle Flure des alten Klinikgebäudes mit bunten, expressionistischen und verstörenden Bildern von Lena behängt. Sie malt aufgeklappte Köpfe in explodierenden Farben, aus denen Bänder in vielen Farben flattern. Ein immer wiederkehrendes Sujet sind Hände, die mit bunten Bändern umwickelt sind, und die von großen Augen, die an die schwarz umrandeten Augen indischer Tänzerinnen erinnern, beobachtet werden. Die Bilder sind schön, aber sie erzeugen auch ein Grauen in mir. Ich kann etwas von Lenas Verstörung verstehen, wenn ich ihre Bilder sehe.
An Lenas Stationsärztin haben wir weniger gute Erinnerungen. Sie setzt Lena unentwegt Untersuchungen aus. Vielleicht ist es wichtig für die Forschung, aber es ist auf jeden Fall eine Belastung für meine Tochter. Einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterlässt ein Intelligenztest, den Lena in einem Zustand großer Verwirrung über sich ergehen lassen muss. Als Ergebnis bekommt Lena mitgeteilt, dass sie einen sehr niedrigen IQ habe. Lena ist verzweifelt und ruft mich schluchzend an. Darauf angesprochen, bestätigt die Ärztin das Testergebnis. Ich bin wütend. Ist es wichtig, herauszufinden, ob Schizophrene gut in Intelligenztests abschneiden? Und welchen Beitrag zu Lenas Gesundung soll ihr die Mitteilung des Testergebnisses bringen? Und welche Verlässlichkeit kann ein Test haben, der bei einem Menschen durchgeführt wird, dessen kognitives Denken und Konzentrationsfähigkeit erheblich gestört sind? Ich weiß nicht, worunter Lena jahrelang mehr leidet, unter der furchtbaren Diagnose Schizophrenie oder unter dem Etikett »dumm«. Ich erkläre ihr, dass der Test etwa so sinnvoll sei wie ein Test, der meine Schnelligkeit im 100-m-Lauf prüfen würde, nachdem ich gerade eine Bandscheibenoperation hinter mir hätte. Aber dieses Thema lässt sie jahrelang nicht los.
Warum tun Ärzte Patienten so etwas an? Denken sie nicht nach? Wissen sie nicht, was bestimmte Bemerkungen auslösen können? Ein befreundeter Arzt eines großen psychiatrischen Krankenhauses erklärt mir 1997, dass diese Intelligenztests – leider – immer noch bei Patienten gemacht würden. In seiner Klinik habe er sie abgeschafft, zum einen wegen der möglichen negativen Auswirkungen auf die Patienten, wie man bei Lena sehen könne, und zum anderen, weil der Intelligenzquotient bei einem Menschen in einer akuten Psychose kaum eine Rolle spiele. Auch intelligente Menschen könnten in einer Situation der kognitiven Störung ihre Intelligenz nicht nutzen.
Ich mache auch meine eigenen Erfahrungen mit der Psychiaterin. Frau D. ist eine fleißige Leserin, auf ihrem Schreibtisch liegen stets große Stapel von Fachbüchern. Eine kurze Wartezeit vor der gemeinsamen Therapiestunde nutze ich, um einen Blick darauf zu werfen. Anschließend bitte ich sie, mir die Titel von zwei Büchern zu nennen, die ich interessant finde. »Ach, Frau Berg-Peer«, sagt sie in freundlichem, aber herablassendem Ton. »So etwas müssen Sie doch nicht
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