Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
freundlicherer Umgangston ihnen den Aufenthalt dort angenehmer machen würde. Damals haben die Psychiaterinnen sicher messerscharf erkannt, dass ich ein kontrollbedürftiger Mensch bin. Aha, werden sie gesagt haben, kein Wunder. Sie kann die Tochter nicht loslassen, sie will die Kontrolle über sie nicht verlieren. Vielleicht haben sie damit recht. Aber vielleicht ist es auch nur mein verzweifelter Versuch, Struktur in eine chaotische Situation zu bringen. Ich muss Lenas innerem Chaos und dem Chaos, das in mein Leben eingebrochen ist, eine äußere Ordnung entgegensetzen. Ich war nie ein ordentlicher Mensch, es war immer eher eine Strafe für mich, aufzuräumen. Aber jetzt brauche ich das Aufräumen für mich. »Lassen Sie doch die Sachen liegen und gehen Sie mit Ihrer Tochter den Gang auf und ab«, sagt eine Schwester, die meine hektischen Ordnungsversuche im Fernsehraum beobachtet. Es ist ein gutgemeinter Rat, aber damals kann ich ihn noch nicht annehmen. Das können die doch nicht einfach so laufen lassen, denke ich. Natürlich sind alle meine Ordnungsmaßnahmen etwa so erfolgreich wie der Versuch, das Meer daran zu hindern, über den Strand zu spülen.
Lena beansprucht mich Tag und Nacht. Ich weiß noch nicht, dass ihre Beschwerden nicht immer wörtlich zu nehmen sind. Niemand erklärt mir, dass diese verbalen Ausbrüche gegen Mitpatienten, Schwestern oder Ärzte auch der niedrigen Frustrationstoleranz zuzuschreiben sind. Jedes kleine Ärgernis wird für Lena zu einem Drama. Ich weiß auch noch nicht, dass Schizophreniekranke dazu neigen, anderen Menschen eher negative Absichten zu unterstellen, und dass sie schnell glauben, jemand sei gegen sie und wolle ihnen schaden. Ich identifiziere mich mit Lena und bin ebenfalls schnell aufgeregt. Allmählich bekomme ich aber mit, dass sich Lena auch über mich beschwert. Auch ich behandele sie schlecht. Warum erzählt Lena, dass ich sie permanent anschreie, dass ich mit ihr schimpfe? Erst viel später lerne ich, dass psychisch kranke Menschen extrem feine Sensoren haben, mit denen sie auch die kleinste Irritation in der Stimme oder auch der Mimik ihres Gegenübers registrieren. Wenn ich mit ruhiger Stimme, aber innerlich leicht verärgert oder auch nur angespannt sage, dass sie ihren Teil des Zimmers aufräumen solle, dann nimmt sie die leichte Verärgerung oder Anspannung verstärkt wahr. Eine gerunzelte Stirn kann sich für sie zu einer bitterbösen Fratze verzerren. Eine leichte Anhebung der Stimme ist für sie ein Schreien. Sie nimmt alle Lebensregungen in ihrer Umgebung intensiver und verzerrt wahr. Anfangs reagiere ich mit Unverständnis darauf, dass Lena mir oder auch anderen Menschen gegenüber behauptet, ich würde »schimpfen« oder »schreien«. Ich habe das Bedürfnis, das richtigzustellen, ich schäme mich. Ich sage ihr, dass doch nicht stimme, was sie über mich erzählt. Ich frage mich, warum sie »Lügen« über mich verbreitet. Ich ärgere mich über Lena. Es ist mir peinlich vor Freunden, wenn Lena dort über mein negatives Verhalten berichtet. Ich bin doch keine Mutter, die schreit oder ihre Tochter ungerecht beschuldigt!
Damals beginne ich nach Zeichen von Skepsis in den Gesichtern meiner Freunde zu suchen. Sie glauben mir nicht wirklich, habe ich das Gefühl. Sie verstehen, dass ich mich verteidigen muss, aber andererseits hat Lena das doch so ruhig und verständig mitgeteilt, dass es sehr glaubwürdig klingt. Psychisch Kranke können so vernünftig und klar argumentieren, dass es schwer ist, ihnen keinen Glauben zu schenken. An einem Verrückten erschreckt uns am meisten die vernünftige Art, auf die er sich unterhält, habe ich bei Anatole France gelesen. Diese »vernünftige« Art hindert uns daran, die Krankheit zu erkennen, wenn wir noch keine Erfahrung mit ihr haben. Und diese »Vernunft« erschreckt uns nicht nur, sondern wir beginnen auch an unseren eigenen Wahrnehmungen zu zweifeln. Wahnsinn ist ansteckend.
Lena ist nun schon seit mehreren Monaten in der Jugendpsychiatrie. Ihr Zustand verschlechtert sich von Woche zu Woche. Ich beginne zu zweifeln, ob es richtig ist, sie länger dortzulassen. Aber mir wird erklärt, dass eine anfängliche Verschlechterung normal sei. Lena sei so schwer krank, dass es dringend geboten sei, sie weiter in der Klinik zu behalten. Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Lena nach Hause zu holen, und der Angst, damit einen Fehler zu machen. Vielleicht wäre eine selbstbewusstere Mutter mit klaren
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