Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Standpunkten anders damit umgegangen und hätte ihre Tochter auch gegen den Willen der Ärzte nach Hause geholt. Ich hatte nicht den Mut dazu. Heute mache ich mir Vorwürfe deswegen. Es tröstet mich ein wenig, dass es nicht nur mir so geht. In Joyce Carol Oates’ Buch über den Tod ihres Mannes fragt sich die Autorin ständig, ob sie falsche Entscheidungen getroffen hat, ob sie den Ärzten zu sehr vertraut hat und ob die Krankheit ihres Mannes anders verlaufen wäre, wenn sie eine andere Klinik gewählt hätte. Auch sie packt das Entsetzen darüber, dass ihr Mann plötzlich verwirrt ist, dass er nicht mehr er selbst ist. Auch sie hat das Bedürfnis, Ordnung zu schaffen, das Chaos einzudämmen. Ebenso wie ich hat auch Oates Angst davor, sich durch Kritik die Schwestern zum Feind zu machen.
Ich kämpfe an vielen Fronten. Auch Lena darf ich mir nicht zum Feind machen, indem ich ihre Forderungen ablehne. An manchen Tagen schreit sie mich an, weint und beschimpft mich. An anderen Tagen bin ich die liebste und beste Mutter auf der ganzen Welt. Sie fleht mich an, sie aus dem Krankenhaus zu holen. Manchmal ist sie kaum ansprechbar, oft ist sie traurig, und sie weint viel. Sie mag die Ärztinnen und Pfleger nicht. Sie vermisst ihre Freunde. Da sie auf einer geschlossenen Station lebt, können diese nicht so oft kommen, wie sie es gerne hätte. Es ist ihr peinlich, wenn Besucher an der Tür klingeln müssen und dem strengen Blick des Pflegepersonals ausgesetzt sind, bevor sie zu ihr gelassen werden. Ich habe mich oft gefragt, warum so viele Schwestern auf geschlossenen Stationen so wenig freundlich reagieren, wenn jemand an der Stationstür klingelt.
Es ist erschreckend, wie sehr Lena sich äußerlich verändert hat. Schon in den ersten zwei Monaten hat sie über dreißig Kilo zugenommen. Ihr Gesicht ist aufgedunsen, das schöne lange Haar fettig und verzottelt. Ihre Pullover haben Löcher, und die Jeans sind kunstvoll mit Kugelschreiber bemalt, so dass der blaue Stoff kaum mehr zu erahnen ist. Sie entwickelt merkwürdige Angewohnheiten. Es ekelt mich, dass sie mit ihrem Mund unentwegt Spuckebläschen bildet, und ich bitte sie erfolglos, damit aufzuhören. Ihre Bewegungen werden eckig. Sie kichert oft albern vor sich hin, und sie schlingt unendliche Mengen Essen in sich hinein. Es ist unappetitlich, ihr dabei zuzusehen. Ich beginne mich für Lenas Aussehen zu schämen. Als sie die Jugendpsychiatrie das erste Mal verlassen darf, verabreden wir uns am Wittenbergplatz. Als Lena aus dem U-Bahnhof kommt und auf mich zugeht, schäme ich mich. Sie hat trotz Sommerwetter eine dicke Pudelmütze auf und trägt einen schmutzigen Kapuzenpullover. Ihre zu engen, zerrissenen Hosen hängen über löchrigen Turnschuhen bis auf den Boden. Auf dem Rücken hat sie einen Rucksack, der wie für einen Extremurlaub vollbepackt ist. Ihr Gesichtsausdruck ist finster. Ich hasse mich für meine Scham, aber ich sehe die Blicke der anderen Menschen. Es ist mir peinlich. Ich verstehe nicht, weshalb Lena sich äußerlich so verändert hat. Warum kann sie sich nicht ein bisschen pflegen? Warum wäscht sie sich nicht? Warum bemalt sie ihre Hosen und schneidet Löcher hinein? Und warum zieht sie diese schreckliche, schmutzige und zerlöcherte Mütze so tief ins Gesicht? Kann sie nicht das meiste aus dem Rucksack in der Psychiatrie lassen? Oft mache ich ihr zu der Zeit Vorhaltungen, kaufe ihr neue Hosen oder Pullover, damit sie nicht so »schlimm« herumläuft. Aber schon nach einer Woche sehen die neuen Kleidungsstücke wieder total abgerissen aus.
Ich weiß damals noch nicht, dass Schizophrenie zu dieser Art von Verwahrlosung führen kann. Und dass bestimmte Neuroleptika zu vermehrtem Speichelfluss führen. Lena kann das nicht regulieren, und die Bläschenbildung ist vielleicht ein Versuch, ein unangenehmes Gefühl zu mindern. Neuroleptika können sich auch auf die Motorik auswirken. Eckige Bewegungen, Herumgezappel, Nervosität – wie oft habe ich Lena gebeten, damit aufzuhören. Vor allem aber der unbändige Appetit wird durch diese Medikamente hervorgerufen. Es tut mir leid, dass ich Lena oft gesagt habe, sie solle doch nicht so in sich hineinschlingen.
Erst Wochen später erklärt mir die Oberärztin, mit der ich bereits über das Thema Unordnung gesprochen hatte, wie es zu dieser Verwahrlosung kommt. »Das schlimme und verstörende Chaos in Lenas Kopf zeigt sich zunächst darin, dass sie auch keine ›Ordnung‹ an ihrem Körper herstellen kann.
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