Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
abends weggehen? Muss ich kontrollieren, was sie tagsüber tut? Normalerweise kann ein 19-jähriges junges Mädchen schon selbst viele Entscheidungen für sich treffen. Aber was ist jetzt noch »normal«? Ich schaffe es nicht, normal über die nächsten Schritte für Lena nachzudenken. Nachdem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hat, ist sie sehr erschöpft. Aber sie hat ein Ziel: Sie will ihren Schulabschluss nachmachen. Sie ist wütend darüber, dass die Ärzte ihr sagen, sie müsse nicht die Wünsche ihrer Mutter erfüllen und in die Schule gehen. »Ich will das selbst, Mama, das weißt du doch, oder? Du hast mir doch gar nicht gesagt, dass ich meine mittlere Reife machen soll.« Auch mir wird gesagt, ich solle doch nicht so ehrgeizig für meine Tochter sein. Haben Ärzte so wenig Vertrauen in ihre jungen Patientinnen, dass sie ihnen keine eigenen Ziele zutrauen?
Zu Hause erlebe ich, wie schwer Lena die Bewältigung des Alltags nach wie vor fällt. Rechtzeitig aufstehen, sich anziehen – alles dauert ewig. Ich merke, dass sie sofort nervös oder aggressiv reagiert, wenn sie gedrängt wird, sie fühlt sich schnell unter Druck gesetzt. Ihr Zimmer sieht nach jedem Aufräumen innerhalb einer Stunde wieder chaotisch aus. Ich glaube, sie schonen zu müssen, aber diese Art der Schonung ist für beide Seiten nicht gut: für Lena, weil sie das Gefühl haben muss, nicht normal zu sein, und für mich als Mutter, weil die permanente Bemühung um Schonung mich anstrengt und irgendwann auch wütend macht.
Mit 19 kann Lena nicht mehr auf die Regelschule gehen. Nach einigem Suchen finden wir einen Volkshochschulkurs, an dem sie abends ihren Realschulabschluss nachholen kann – er beginnt aber erst in drei Monaten. Da ich Lena tagsüber nicht allein zu Hause lassen will, nehme ich sie in der Zwischenzeit mit ins Büro. Lena würde viel lieber zu Hause bleiben, aber sie kommt ohne größere Widerstände mit. Heute sagt sie vorwurfsvoll: »Du hattest mich ganz schön im Griff.« Aber damals habe ich ganz und gar nicht das Gefühl, irgendetwas im Griff zu haben. Im Büro wird Lena mit kleinen Aufgaben beschäftigt, was sie aber schnell langweilt. Ich bin nervös und gereizt, weil ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren kann. Ständig überlege ich, wie Lena unabhängig von mir wohnen kann und was aus ihr wird. Eine Lösung für sie ist nicht in Sicht, und mir graut davor, ständig auf sie aufpassen zu müssen.
Erst Jahre später sagt mir ein Arzt, dass man Kranken etwas zumuten und zutrauen muss. »Wollen Sie Ihre Tochter dauerhaft einsperren? Doch sicher nicht. Früher wurden psychisch kranke Menschen ihr Leben lang in Krankenhäusern oder Asylen eingesperrt. Man ging davon aus, dass man die Umwelt vor ihnen und sie vor sich selbst schützen müsse. Heute gehen wir einen andern Weg. Lena muss wieder an ein normales Leben gewöhnt werden. Dazu gehört es auch, dass sie sich vielleicht manchmal zu viel zutraut und es einen Rückfall gibt. Aber nur daraus kann sie lernen, wie viel sie sich zutrauen kann. Ob sie das genau so tut, wie Sie oder wir es uns wünschen, ist unwichtig. Es ist ihr Leben.«
Das Warten und die Ungewissheit verlangt uns einiges ab. Ich bin inszwischen auch schnell genervt, und Lena ist oft frustriert, weil sie nicht weiß, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Dennoch empfinde ich es oft auch als schön, zu Hause für Lena sorgen zu können. Ich habe das Gefühl, etwas gutmachen zu können. Am Abend sitzen wir zusammen, Lenas alte Freunde besuchen sie. Wir holen nach, was ich vor Lenas Englandaufenthalt durch den Aufbau meiner Selbständigkeit und die viele Arbeit vernachlässigt habe. Dann erreicht uns endlich der Bescheid, dass Lena einen Platz in einer Wohngemeinschaft bekommen hat. Ich freue mich mit ihr, aber meine anfängliche Begeisterung wird gedämpft, als ich feststelle, dass die Wohnung in einer Gegend liegt, die ich mir gar nicht für meine Tochter wünsche. In den Kneipen, die dort zahlreich vorhanden sind, kann man problemlos jede Droge kaufen.
Als wir zum Vorstellungsgespräch gehen, begrüßen uns fünf junge Menschen und zwei Sozialarbeiter mit Kaffee und Streuselkuchen. Lena ist zunächst unsicher, aber das Gespräch verläuft gut, und sie wird als neues WG-Mitglied angenommen. Eine Mitbewohnerin bietet sich sofort an, ihr beim Umzug zu helfen. Ich bin erleichtert. Lena wird Gesellschaft haben, und ich muss mich nicht mehr rund um die Uhr um sie kümmern. Das ist jetzt die
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