Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
jeden Versuch, mit mir über Lenas Unzufriedenheit zu reden, ab. Wie soll es weitergehen, wenn ich sie aus der Tagesklinik nehme? Für psychisch Kranke ist nicht die Krankheit allein schlimm. Wer einmal aus der »normalen« schulischen und beruflichen Laufbahn herausgeworfen wird, hat es schwer, wieder Anschluss zu finden. Wo kann sie wohnen? Welche Schule nimmt ein junges Mädchen, das über 18 ist und gerade aus der Psychiatrie kommt?
Eines Abends klingelt das Telefon. »Ich nehme Lena mit nach Rhodos«, sagt meine Schwiegertochter Emma. »Der Vater einer Freundin hat da ein Ferienhaus und wir fahren alle zusammen hin. Lena kommt einfach mit, dann kann sie mal eine Weile aus dieser Tagesklinik weg. Am Sonntag fliegen wir.« Mir kommen die Tränen. Seit September 1996 ist es das erste Mal, dass mir jemand praktische Hilfe bei Lena anbietet. Das werde ich Emma und meinem Sohn nie vergessen.
Lena ist begeistert. Der Leiter der Tagesklinik hingegen ist empört und hält mir vor, Lenas Gesundheit, ja ihr Leben, aufs Spiel zu setzen. Er setzt mir dermaßen zu, dass Lena und ich schließlich weinend aus der Tagesklinik fliehen. Er ruft uns noch über den Parkplatz nach: »Es ist verantwortungslos, Lena jetzt hier wegzuholen. Sie wird einen schlimmen Rückfall erleiden, und das haben Sie dann zu verantworten. Aber natürlich würden wir sie dann wieder aufnehmen.«
Die Reise nach Rhodos ist die erste Entscheidung, die wir nach der Diagnose »Schizophrenie« gegen den Willen der Ärzte treffen. Lena traut sich die Reise zu, warum soll ich es dann nicht auch tun? Ratschläge von Freunden sind dabei wenig hilfreich. »Das kannst du doch nicht machen, das ist doch extrem gefährlich!« Nur von Angehörigen anderer Patienten werde ich ermutigt. »Das ist schön von Ihren Kindern, dass sie Lena mitnehmen. Das wird ihr guttun.« Natürlich kann niemand vorhersagen, wie es ausgehen wird, aber ich entscheide mich dafür, Lena die Freude zu gönnen. Es bleibt ein Risiko, aber ich beginne zu akzeptieren, dass ich mit einem psychisch kranken Kind immer wieder Risiken werde eingehen müssen. Und, wenn ich ganz ehrlich bin, gibt es mir auch einmal zwei Wochen Ruhe, um durchzuatmen. Nach der Reise müssen wir weitersehen.
Der Erfolg gibt uns recht: Lena ist glücklich in der Sonne und im Wasser und hat Spaß mit ihrer Schwägerin und den zwei kleinen Nichten. Ich hätte sie niemals so lange in der Klinik lassen dürfen. Die Reise tut ihr gut.
Katastrophen in der Betreuten Wohngemeinschaft
»Die Mutter zeigt sowohl über- wie auch unterfordernde Verhaltensweisen, daher ist es dringend geboten, dass die Tochter in eine andere Umgebung gebracht wird.« Diesen Satz finde ich viele Jahre später in einem Gutachten der Jugendpsychiatrie, in der Lena viele Monate verbrachte. Ich frage mich, wie die Ärzte dort trotz dieses Urteils verantworten konnten, dass Lena für mehrere Monate zurück in die Obhut ihrer über- und unterfordernden Mutter kommt. Und wenn es schon keine andere Möglichkeit gab, hätte man mich nicht aufklären können, welche Verhaltensweisen für Lena nicht gut und welche stattdessen förderlich wären? Sie hätten mir zum Beispiel zu einer separaten Wohnung für Lena raten können. Sie taten es nicht. Ohne einen fachlichen Rat glaubte ich damals, alles nachholen zu müssen, was ich vorher – vielleicht – bei Lena vernachlässigt hatte. Ich suchte eine passende Wohnung für uns beide, schmierte ihr morgens ein Frühstücksbrötchen und ging abends selten aus, damit ich immer für Lena da war, wenn sie von Freunden zurückkam. Vielleicht habe ich sie damals viel zu sehr »beschützt« und bemuttert. Ich glaubte, dass genau das nun meine Aufgabe sei.
Weil Wohngemeinschaftsplätze knapp sind, muss Lena fünf Monate bei mir bleiben – ohne Tagesstruktur, ohne Schule und ohne Aufgabe. In der Wartezeit beginnen wir, nach einer Schule zu suchen. Nach dem langen Klinikaufenthalt ist Lena nicht mehr akut psychisch krank, und sie fühlt sich auch nicht so. Sie sieht aber nicht ein, dass sie noch geschwächt ist und sich auch noch nicht alles wieder zumuten kann, was junge Menschen ohne eine psychische Krankheitserfahrung in diesem Alter bewältigen. Sie will ihr altes Leben zurückhaben. Aber die Umwelt – auch ich – sehen Lena vor allem durch die Brille »psychisch krank«. Ich frage mich, ob sie Schule oder Ausbildung jetzt schon schaffen wird, bin unsicher, ob sie sich ganz normal mit Freunden treffen kann. Darf sie
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