Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
sehr ernste Erkrankung sei. Sie habe etwas mit der Fehlfunktion von Neurotransmittern zu tun. Ich verstehe nichts von dem, was Dr. C. mir erklärt. Bislang wusste ich nicht einmal, dass es Neurotransmitter gibt. Dennoch bin ich etwas beruhigt, denn wenn die Fehlfunktion der Neurotransmitter durch ein Medikament korrigiert werden kann, scheint es doch eine Heilungschance zu geben. Aber Wochen oder Monate? Ich schaue Dr. C. ungläubig an. Es kann doch nicht sein, dass Lena mehrere Monate im Krankenhaus bleiben muss? Mir laufen Tränen über das Gesicht. Der Arzt betrachtet mich nachdenklich. Damals dachte ich, dass er mich mitleidig ansah. Heute weiß ich, was er dachte: Aha, eine labile Mutter.
Obwohl ich über die Aussicht, dass Lena für Monate im Krankenhaus bleiben soll, entsetzt bin, stelle ich die Aussagen von Dr. C. nicht in Frage. Ich glaube ihm. Ich muss ihm glauben, ich habe ja sonst auch nichts, an das ich mich halten kann. Bei einer so dramatischen Krankheit kann alles, was ich gegen den Rat der Ärzte tue, furchtbare Konsequenzen haben. Ich habe Angst davor, auch nur einen falschen Schritt zu tun. Ich will, dass Lena die beste Behandlung erhält. Ich will sie trösten und ihr so viel Liebe wie möglich geben. Aber ich habe auch Angst, dass meine Tochter wütend wird, weil ich sie ins Krankenhaus gebracht habe. Und Lena wird wütend. Wie schaffe ich es, einerseits den Anordnungen der Ärzte zu folgen und andererseits die Beschuldigungen von Lena auszuhalten, dafür, dass ich sie in eine »Irrenanstalt« eingesperrt habe?
Was ist Schizophrenie?
Ich beginne zu lesen, denn ich muss wissen, um was für eine Krankheit es sich handelt. Vor mir liegen stapelweise Bücher über Schizophrenie, Therapien, Genetik, Jugendpsychosen, Ratgeber für Angehörige psychisch Kranker, Bücher über Antipsychiatrie, die Geschichte der Schizophrenie und der Irrenanstalten. Was ist Schizophrenie, wie entsteht sie, wie wird sie therapiert? Ich lese über unterschiedliche Ansätze bei den Therapien. Kalte Dauerbäder, Insulingaben oder Lobotomien werden heute nicht mehr angewandt, aber Elektroschocktherapie gibt es nach wie vor, sie soll vor allem bei Depressionen hilfreich sein. Ich erfahre, dass es unterschiedliche Klassifizierungssysteme für psychische Störungen gibt, dass die gleichen Symptome in einem Land ein anderes Etikett erhalten können als in einem anderen. Ich lese Berichte von Menschen, die persönliche Erfahrungen mit Schizophrenie gemacht haben, oder von Angehörigen, die miterlebt haben, wie ein Kind, ein Partner oder ein Elternteil mit dieser Krankheit fertig werden muss. Ich erfahre, dass psychische Krankheiten, vor allem Schizophrenie, in Familien, in denen diese Krankheit bereits vorkam, gehäuft auftreten können. Es gibt Wissenschaftler, die sagen, dass es »die« Schizophrenie nicht gibt, sondern vielmehr eine Reihe von Symptomen, die man dem schizophrenen Formenkreis zurechnet. Andere sagen, dass der Begriff Schizophrenie zu negativ belegt oder zu unspezifisch sei, so dass man den Namen in neuro-cognitive disorder ändern sollte. Es gibt Stimmen, die postulieren, dass es keine psychischen Erkrankungen gibt, sondern nur Menschen mit »anderen« Lebensformen und Erfahrungswelten, die mit dem Etikett »psychisch krank« aus der Gesellschaft ausgesondert und durch Medikamente ruhiggestellt werden sollen. Ganz besonders beunruhigen mich Berichte von Betroffenen, die über eine gleichgültige bis gewalttätige Behandlung durch Ärzte und Krankenhäuser berichten. Es ist verunsichernd, all diese Definitionen und unterschiedlichen Meinungen zu lesen. Welche von diesen Informationen sind glaubwürdig, und vor allem: Welche sind wichtig für mich und Lena?
Weiß ich nun, was Schizophrenie ist? Ich kann Symptomen einen Namen geben, ich weiß, dass es Halluzinationen, Stimmenhören, Manien und Depressionen gibt. Ich weiß, dass Denken und Fühlen bei Menschen mit Schizophrenie gestört sind. Aber ich weiß nicht, was das heißt und wie sich das anfühlt. Was geht in einem Menschen vor, der Wahnvorstellungen hat? Was genau bedeutet es, an kognitiven Störungen zu leiden? Der Psychiater Fritz Simon weist in seinem Buch Meine Psychose, mein Fahrrad und ich darauf hin, dass es etwas anderes ist, Verrücktheit zu erleben, als darüber zu lesen. Es sei wie der Unterschied zwischen einer Speisekarte und dem Essen. Wer eine Speisekarte verzehrt, fügt er hinzu, sei verrückt.
Ich stelle mir vor, wie schwierig es
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