Schlaf, Kindlein, schlaf
ein paar Mal in dem nassen Gras aus – einmal machte sie einen ungelenken Purzelbaum und schlug sich an einem Grabstein das Knie auf. Sie schrie laut auf vor Schmerz, tastete mit den Fingerspitzen und spürte, dass die Haut abgeschürft war. Gehetzt sah sie sich um, voller Angst, sie hätten ihren Schrei gehört. Dann zwang sie sich weiterzuhumpeln. Sie konnte in dem strömenden Regen niemanden entdecken, keine Menschenseele weit und breit. Der kleine Friedhof, der die Kirche umgab, war verlassen.
Sie humpelte die Stufen zum Eingang hinauf, rüttelte an der Tür und schlug dagegen, aber sie war abgeschlossen. Planlos hatte sie gedacht, in dem Gotteshaus sicher zu sein, aber jetzt sah sie bei genauerem Nachdenken ein, dass es keine so gute Idee gewesen war, in der Kirche Schutz zu suchen. Wenn sie entdeckt würde, wäre sie dort drinnen gefangen. Sie hastete die Treppe wieder hinunter und lief um die Kirche herum.
Ein gigantisches Spalier aus Rosen wölbte sich hoch über ihr. Der Regen funkelte auf den glatten Blättern, und die weißen Blüten ließen wegen der schweren Regentropfen die Köpfe hängen. Ein paar Blüten lagen zertreten auf der Erde.
Máire zwängte sich durch eine schmale Lücke zwischen zwei der schmiedeeisernen Stangen, lief zum offen stehenden Friedhofstor hinaus und eilte über die Straße und auf den Gehsteig der gegenüberliegenden Seite. Wenige Minuten später entdeckte sie die dunklen Umrisse von ein paar Häusern. Zwei davon lagen etwa fünfzig Meter auseinander. Alle Fenster waren dunkel. Als sie näher kam, erkannte sie, dass sie gar nicht fertig gebaut worden waren.
Sie war außer Atem, erschöpft, und ihr war schwindelig. In ihren Lungen und ihrem Hals brannte es wie Höllenfeuer, aber sie rannte weiter. Sie durchquerte einen Garten und erreichte gerade den Vorgarten, als sie Licht in den Fenstern entdeckte. Sie stürmte den Gartenweg entlang, der zur Haustür führte, und sog den Duft von Nachtjasmin ein.
Sie klopfte laut auf den Türrahmen und lugte durch vier kleine Glasscheiben hinter einem Insektengitter ins Hausinnere. Sie sah in eine Küche. Auf dem Tisch flackerte eine einzelne Kerze.
»Hallo? Ist da jemand?« Máire klopfte wieder gehetzt an die Tür und warf einen Blick über die Schulter. »Hallo?«
»Das ist ein ewiges Licht!«, ertönte plötzlich eine Stimme.
Máire unterdrückte einen Schrei, fuhr herum und starrte auf einen Schädel, über dessen spitze Knochen sich runzlige Haut spannte. Im nächsten Augenblick wurde ihr klar, dass es sich um das faltige Gesicht einer alten Frau handelte. Sie glich einem Häuptling aus einem Indianerfilm. Die Kerze warf unheimliche Muster auf ihre Wangen, ihre verschränkten Arme und ihr Nachthemd aus weichem, weißem Flanell. Sie trug lange Zöpfe, die wie graues Wollgarn aussahen. Abgesehen von den Zöpfen sah sie aus wie eine Neunzigjährige. Sie roch nach fauligen Äpfeln und Schweiß. Ihre Ausdünstungen drang durch ihre Kleider bis in Máires Nase.
»Als Trost für den Toten«, sagte die Frau, trat in den Regen und ließ die Tür hinter sich offen stehen. Die Kerze auf dem Tisch zuckte im Wind. Falls die Frau bemerkte, dass es regnete, kommentierte sie das nicht.
»Mein Mann Carl liegt im Sterben. Er hat die Eichen an der Auffahrt gepflanzt.« Sie deutete den Weg hinunter.
»Ja, ja«, Máire riss sich aus ihren Gedanken. »Ich muss dringend telefonieren. Es gab einen …« Máire räusperte sich, als Speichel in ihren Mund floss. Sie hörte ihren Atem pfeifen. Sie erschauderte, in ihrem Kopf dröhnte es. Sie dachte, sie müsste sich übergeben, unterdrückte aber den Reflex. Der Krampf umschloss ihren Brustkorb wie ein eiserner Ring. Sie schluckte und stammelte: »Es gab einen Unfall … ich brauche ein Telefon …«
Die Alte machte ein verärgertes Gesicht und warf beiläufig ihre langen Zöpfe nach hinten. »Wir gehören zu den Amischen«, sagte sie. »Auch wenn wir vor vielen Jahren aus Pennsylvania hierhergezogen sind, sind wir in unserem Herzen noch immer amisch geblieben, verstehen Sie?«
Einen Augenblick lang starrte Máire die Alte verständnislos an. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie hatten keine elektrischen Geräte, keinen Strom, kein Auto, kein Telefon. Das darf nicht wahr sein! Das hier ist Amerika – hier hat jeder Achtjährige ein Handy!
»Ich habe kein Problem damit, dass andere so leben. Wir wollten das aber nicht. Ich habe einmal vorgeschlagen, dass wir uns ein Telefon anschaffen …
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