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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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für den Notfall. Aber Carl wollte davon nichts hören. Jetzt ist er fast tot, der Ärmste. Er hat schon angefangen zu riechen.«
    Máire schluckte. »Gibt es jemanden hier in der Nähe, der ein Telefon hat … ein Nachbar oder irgendjemand?« Ihre Stimme war schrill, und sie warf noch einen Blick über die Schulter.
    »Vielleicht lasse ich eins installieren, wenn Carl tot ist.«
    Das nützte auch nichts. Máire drängte sich an der Frau vorbei und schob ihre Hand zur Seite, als sie versuchte, sie aufzuhalten. »Lassen Sie mich gehen. Ich muss telefonieren. Es geht um Leben und Tod …«
    »Der Güterbahnhof liegt auf der anderen Seite der Lichter. Da gibt es ein Telefon«, rief die Frau ihr nach.
    Máire hatte den Blick auf die Lichter geheftet. Sie konnte nicht mehr rennen, sie schleppte sich nur noch weiter; ihre Beine waren schwach und zitterten, sie hatte Schmerzen – schreckliche Schmerzen – von der Hüfte aufwärts bis zur Achselhöhle. Sie blickte sich um und überlegte, was sie mit ihr machen würden, wenn sie sie schnappten. Sie versuchte, nicht daran zu denken.
    Máire steuerte auf die Kreuzung zu, als ein Polizeiwagen drei Häuserblocks weiter um die Ecke bog. Sie rief und winkte.
    Das Auto stoppte: Sie hatten sie gesehen.
    Máire hörte ein klägliches Wimmern, und sie begriff, dass sie sich selbst hörte.

5
     
    Máire starrte durch die verregnete Seitenscheibe. Die Hauptstraße sauste wie ein schwarzer Eilzug vorbei, und der Sturm schüttelte den Wagen. Ihr Herz schlug mit den Windböen und dem Regen, der auf das Autodach trommelte, um die Wette. Sie sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Jede grün leuchtende Ziffer zeigte nicht nur an, dass die Zeit verstrich, sondern auch dass C.J.s Überlebenschancen schwanden. Máire war übel vor Angst, zu spät zu kommen, und sie fühlte sich furchtbar. Diese Situation hatte etwas schrecklich Déjà-vu-artiges an sich – nicht, dass sie etwas derart Unheimliches schon einmal erlebt hatte, aber das Gefühl von Hilflosigkeit, Furcht und diesen Schock kannte sie besser, als ihr lieb war.
    Sie fuhren schweigend mit einem Tempo weiter, das nie die Beschränkung von siebzig Stundenkilometer überstieg. Die Stille war unheimlich. Die Fenster waren geschlossen, und die Luft im Auto war schwer wie eine feuchte Wolke. Es roch leicht nach Schweiß, Rosenwasser und Zigaretten – ein ungenießbarer, ekelhafter Cocktail.
    »Können wir vielleicht ein Fenster aufmachen?«, fragte Máire und rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Ihr war kalt, sie fror bis in die Knochen, aber die Übelkeit und der abgestandene Rosenduft wurden immer unerträglicher, und sie brauchte dringend frische Luft.
    Der Fahrer – ein schwarzer, junger Polizist in Uniform und gestärktem Hemd namens Leroy Finch – warf einen raschen Blick in den Rückspiegel, nickte kaum merklich und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Die kalte Luft des nächtlichen Wolkenbruchs strömte herein wie Flügelschläge eines Nachtschwärmers, die Máires Gesicht liebkosten und den Geruch von Gras und Regen mit sich führten.
    Máire atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Sie saß auf dem Beifahrersitz, damit sie den Weg zeigen konnte, und auf der Rückbank saß Police Detective Luis Bondurant im Dunkeln. Er hatte die Arme verschränkt und starrte gleichgültig ins Leere. Er war Anfang vierzig, schätzte sie. Er war groß und trug zivil: Trainingshose, Gummiclogs und ein lachsfarbenes Poloshirt von Ralph Lauren, bis zur Brust aufgeknöpft. Passabel genug, um sie daran zu erinnern, dass sie selbst einen grauenhaften Anblick bieten musste.
    Máire drehte sich um und musterte ihn. Seine Haut war warm und glänzte matt, das Einzige, was sie erkennen konnte, waren sein Bürstenschnitt, stahlgraues Haar, das Weiß in seinen Augen und eine Armbanduhr, die gelegentlich quecksilbrig an seinem Handgelenk aufschimmerte. Der Mann wirkte, als hätte er Kühlwasser in den Adern. Er hatte kein Wort gesagt, seit sie die Straße hinter sich gelassen hatten, auf der Finch sie eingesammelt und sie verzweifelt und unzusammenhängend von C.J. und ihren furchterregenden Verfolgern berichtet hatte.
    Bondurant hatte zweifelsohne die gleichen Gedanken wie Máire, auch wenn er die Geschehnisse von einer anderen Warte aus betrachtete. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass Feierabend und er auf dem Heimweg gewesen war, als Finch ihn angerufen hatte. Sie ließ sich dadurch nicht beirren. Er wirkte überlegen und

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