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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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halb ohnmächtige Frau vom Beifahrersitz in den strömenden Regen. C.J. schlug die Augen auf und stand schwankend auf ihren bloßen Füßen, während der Wind an ihren Kleidern zerrte und sie umzureißen drohte. Máire schlang die Decke um ihren zerbrechlichen Körper, hob sie hoch und trug sie zu den Bäumen am Waldrand. Máire blieb mit den Füßen in der nassen Erde stecken, konnte sich aber auf den Beinen halten.
    Ein Schritt.
    Noch ein Schritt.
    Und noch einer.
    Jeder Schritt war ein Kraftakt und eine unbeschreibliche Anstrengung. Rücken und Arme taten ihr weh, alle Muskeln und Glieder, sogar ihre Haut schmerzte. Auch wenn das Mädchen leicht war – vierzig Kilo etwa, das tropfnasse Hemd inklusive –, kam es Máire vor, als würde sie mit einem sperrigen Möbelstück auf einer Treppe balancieren.
    Als Máire endlich den Wald erreichte, stolperte sie ständig über herabgefallene Äste und Wurzeln, die sich über den Boden schlängelten, und schließlich begannen ihre Knie zu zittern und versagten. Sie legte C.J. auf die nasse Erde.
    Máire rang nach Luft und japste. Ihr Magen zog sich zusammen. Ihr Puls donnerte in ihren Ohren, und die Arme fühlten sich wie gespannte Gitarrensaiten an. Sie hatte gelesen, dass tote Menschen mehr wogen als lebendige. Hoffentlich war C.J. nicht tot.
    »C.J., hören Sie mich?«, flüsterte sie.
    C.J. gab keine Antwort.
    »C.J.?«
    Nichts.
    Máire beugte sich herab und strich ihr über die Wange. Sie reagierte nicht. Máire legte zwei Finger an ihren Hals, um den Puls zu fühlen, und wurde mit einem schwachen, unregelmäßigen Pochen unter ihren Fingerkuppen belohnt. Sie spürte, wie ihr die Tränen in den Augenwinkeln brannten.
    Einen Moment lang tat Máire nichts, sie stand vornüber gebeugt wie Quasimodo und versuchte, ruhig zu atmen. Ihr war klar, dass sie den gewonnenen Vorsprung schon wieder verloren hatten, und der Gedanke an die finstere Gestalt, die hinter ihnen her war, jagte einen neuen Adrenalinstoß durch ihren Körper. Sie sah sich um. Aber vor und hinter ihr gab es nichts zu sehen. Vielleicht hatte der Verfolger aufgegeben? Es ergab wenig Sinn, zu Fuß ein Auto zu verfolgen, und sie dachte etwas optimistischer an den einzigen Vorteil, der ihr einfiel: Der Verfolger konnte nicht wissen, dass der Tank so gut wie leer war.
    Sie musste C.J. noch hundert Meter weitertragen, durch tückische Pfützen und Straßendreck, bis sie eine Stelle fand, an der die Baumkronen so dicht waren, dass der Regen nicht mit ganzer Wucht hindurchdrang. Dort legte sie C.J. vorsichtig ab. Máire sank neben ihr zu Boden. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich gesammelt hatte und etwas sagen konnte.
    »C.J., können Sie mich hören?«, wisperte sie. Sie erkannte ihre Stimme kaum wieder. »Sie müssen hierbleiben, weil ich Hilfe holen muss.«
    C.J. stieß einen undefinierbaren Laut aus und verzog grotesk das Gesicht in dem Versuch, etwas zu sagen.
    »Ich komme zurück, wenn ich Hilfe gefunden habe. Das verspreche ich!« Máire merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten und die Wangen hinunter rannen. Sie war alles andere als sicher, dass das Mädchen bei ihrer Rückkehr noch am Leben sein würde. Ihre Überlebenschancen waren ebenso trostlos wie der strömende Regen. Sie verspürte den großen Drang, sie zu beschützen. Und es war unfassbar deprimierend, dass sie ihr nicht besser helfen konnte. Máire zwang sich, nicht auf die innere Stimme zu hören, die ihr sagte, dass C.J. schon verloren war. Sie strich C.J. übers Haar und stand langsam auf, um keinen Krampf im Bein zu bekommen. »Ich komme wieder«, hauchte sie mit Nachdruck. »Ich schwör’s!«
    C.J. drehte sich plötzlich auf die Seite, streckte einen Arm in Máires Richtung und schrie auf. Máire bückte sich, nahm ihre dürre Hand und hielt sie fest.
    »Schsch …« Máire sah sie an. Aus ihrem Mund tropfte Blut. Sie strahlte pure Angst und Panik aus, wie sie dort lag, leichenblass, mit bebenden Lippen und zitterndem, kraftlosem Körper, der vor allem einer mechanischen Vogelscheuche glich, deren Batterie fast leer war.
    »Ich will mit …«
    »Sehen Sie mich an, C.J. Ich werde Hilfe holen. Ich kann Sie nicht so weit tragen. Sie müssen hierbleiben. Verstehen Sie? Sie dürfen nicht weglaufen … sonst kann ich Sie nicht wiederfinden, wenn ich zurückkomme, ja?« Ihre Worte vermischten sich mit dem Sturzregen.
    C.J. zog ihre Hand aus Máires und ruderte wild mit den Armen. Panisch, weil Máire sie zurücklassen würde, begann sie

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