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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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sah sich überhaupt nicht ähnlich, fand sie. Eher sah sie wie eine alte Frau aus – eine alte, geschiedene Frau, zweiunddreißig Jahre alt, die den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren hatte, aber auch nicht sonderlich viel von ihr erwartete. Ihre Haare waren pitschnass, ihr Gesicht kreideweiß und verschwitzt. Sie kniff sich in die Wangen und schickte ihrem Spiegelbild das überzeugendste Lächeln, das sie sich abringen konnte, seufzte tief und stellte fest, dass der Regen plötzlich stärker wurde. Sie nahm die Schultern zurück, rückte ihre Hemdbluse zurecht und strich sich mit einer raschen, akkuraten Bewegung die Haare aus der Stirn.
    Weiter kam sie nicht.
    Die Diele hinter ihr verlor sich fast völlig im Dunkeln. Aber sie sah etwas funkeln. Plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand stünde hinter ihr.
    Ihre Lippen bebten. »Zum Teufel …«, flüsterte sie heiser. Sie machte einen Schritt zur Seite, aber er riss sie zu Boden, bevor sie Luft holen konnte, um zu schreien.

11
     
    Der Tod kommt nicht immer in einer schwarzen Kutte daher. Er sah ziemlich gewöhnlich aus, der Mann, der sich Die Schlange nannte.
    Das Haus, in dem er sich aufhielt, befand sich in Wimberly Bluff – an einem ausgefahrenen Schotterweg in der Nähe des Friedhofs Bonaventure am äußeren Stadtrand von Savannah – und wurde Harriet Tattnall House genannt, auch wenn niemand so richtig wusste, warum. Zum Haus gehörten etwa zwanzig Hektar Grund, der größtenteils mit hohen Eichen und Zypressen bewachsen war, von denen das Moos wie Schleier herabhing. Dieses Wäldchen grenzte an drei unbebaute Grundstücke, die dem reichen Stephen Strictland gehörten. Das unbebaute Land erfüllte den Zweck, dass ihn niemand störte, und der schwarze Wagen vom Bestattungsinstitut, der in der Auffahrt stand, hatte eine so abschreckende Wirkung, dass keiner der Nachbarn im Traum auf die Idee kommen würde, sich dem Grundstück zu nähern, abgesehen von den Kindern der Gegend, die manchmal Wetten abschlossen, wer sich traute, zur Tür zu laufen, anzuklopfen und wieder zu verschwinden. Ihm war das gerade recht: Er wurde nicht gerne gestört. Er hütete sein Geheimnis und arbeitete mit großer Sorgfalt. Er nahm sich viel Zeit und berücksichtigte eventuelle Unwägbarkeiten. Alles, was er sich vornahm, geschah mit uhrwerksmäßiger Präzision und Effektivität, und alle denkbaren Risiken wurden einkalkuliert.
    In dem weißen fensterlosen Raum unter dem Kellergeschoss roch es streng nach Medizin und antiseptischen Mitteln, und der Boden bog sich unter der Last der ärztlichen Ausrüstung. Hier fanden seine grausamen Machenschaften statt.
    Die Internetverbindung, die er benutzte, verbarg sich hinter einem ferngesteuerten Botnetz, das aus über fünfzehntausend Zombiecomputern von nichts ahnenden Personen bestand, die er mit einem Storm-Orm verbunden hatte. Er benutzte zehn innerstaatliche Server, die alle mit verschlüsselten Infrastrukturnetzen arbeiteten. Er hatte unter Zuhilfenahme von Rootkits, die seine Identität schützten, die Zugangsrechte geknackt. Dadurch konnte er jeden einzelnen von diesen Zombiecomputern samt Server und Internetverbindung benutzen, wie es ihm gerade passte. Diese Codierung bedeutete, dass irgendein neugieriger Superhacker von der Polizei, falls er jemals über irgendetwas stolpern und eine Fährte finden würde, schlimmstenfalls eine Verbindung nach Savannah aufdecken würde – aber mehr auch nicht. Danach würde die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen beginnen. Er war wie eine Rauchwolke, die verflog, und er konnte sich bis in alle Ewigkeit verstecken. Aber die Polizei und die Behörden schossen sich natürlich auch nicht ohne Grund auf jemanden ein.
    Der eindeutigste Beweis dafür, dass ein Mord begangen worden war, war eine Leiche. Und er trennte sich im Krematorium auf sehr effektive Weise von den Leichen. Ihm musste keiner mehr erzählen, wie man Beweise vernichtete. Doch obwohl er den herumschnüffelnden Beschauärzten zwecks detaillierter Untersuchung sämtliche Leichen offen zur Schau gestellt hatte, würden die Parallelen der Tötungsmethoden niemals die Opfer miteinander in Verbindung bringen. Und auch wenn sie alle ein ähnliches Schicksal erlitten hatten, wurde der Totschlag auf verschiedene Weisen ausgeführt, ferner stammten die Opfer aus allen möglichen Gegenden des Landes, und die Morde verteilten sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Ein Muster gab es nicht. Keine Verbindung

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