Schlaf, Kindlein, schlaf
Bestattungsinstitut. Die schwarze Limousine war also ein Leichenwagen. Máires Herz überschlug sich. Wenn das kein Zufall war!
Totenmänner!
Sie holte tief Luft und legte eine Hand auf ihr Herz. Er hatte gar nicht ausgesehen wie ein Bestatter, fand sie, abgesehen von seiner Gesichtsfarbe. In Filmen waren Bestatter immer ernste, geschäftsmäßige, grauhaarige Herren mit einer guten Portion Heiliger Geist in ihrer Miene, die makellose schwarze Anzüge trugen. Der Mann im Ohrensessel glich eher einem Model oder Schauspieler.
Máire merkte sich die Adresse des Instituts in der Stadt, legte die Telefonbücher in die Nachttischschublade zurück und warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Zehn Minuten vor zehn. Valerie ging selten vor Mitternacht zu Bett. Máire gab ihre Nummer ein. Nach dem dritten Freizeichen sprang der Anrufbeantworter an. Sie wartete auf den Piepton und hinterließ eine Nachricht, in der sie Val um Rückruf bat. Máire wollte dringend alles mit Val besprechen, ihr von ihrem Verdacht und ihren Bedenken erzählen. Val würde ihr vermutlich ausreden wollen, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Val würde sich Sorgen machen, Máire beschützen wollen und sagen, sie solle zur Polizei gehen. Aber das spielte keine Rolle. Máire brauchte jemanden zum Reden.
Nachdem sie ein Bad genommen und sich die Zähne geputzt hatte, rief sie wieder bei Val an. Sie hinterließ eine weitere Nachricht, lag lange wach und betrachtete die verzerrten Schatten an der Decke, bevor sie aufstand und sich wieder anzog.
19
Das Lokal hieß Goldmine, obwohl Marlon LeBelle sich nicht erschließen konnte, was diese Bretterbude von einem Wirtshaus, das rund um die Uhr jeden Tag in der Woche geöffnet hatte, mit Edelmetallen zu tun hatte.
Über der Tür hing ein grünes Neonschild, und Girlanden aus bunten Glühbirnen schmückten die Fensterrahmen. Drinnen spielte eine altmodische Jukebox Evergreens und Countrymusik, und Jerry Lee Lewis klang wie jemand, dem ein Meißel tief im Hintern steckte.
Sepiafarbene Fotografien verstorbener Hollywoodschauspieler, verewigt auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, schmückten in geschmacklosen Rahmen die unbehandelten Holzwände. Einem furchterregend aussehenden Kerl mit Bürstenschnitt, dem Kiefer einer Bulldogge und den Zähnen einer Muräne gehörte der Laden. Er hieß Billy-Bob Waylon, zahlende Kunden und Freunde nannten ihn Beaver. Als Marlon eintrat, blickte er hinter dem Tresen von seiner Boulevardzeitung auf, grüßte mit einem gleichgültigen Nicken und senkte den Blick wieder. Er trug eine Cowboyhose und ein strahlend weißes ärmelloses T-Shirt mit dem Aufdruck Schone das Pferd, reite den Cowboy. Seine Arme waren hart wie Autoreifen.
Marlon fröstelte. Er hegte eine extreme Antipathie gegenüber Homosexuellen und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die Bilder, die beim Lesen des Spruchs unweigerlich vor seinem inneren Auge auftauchten.
Marlon drehte eine Runde. Es war spät, und der Laden brummte. Die Luft war stickig, und der Geruch von Bier, Zigaretten und Parfüm vermengt mit Schweiß und anderen unschönen Körpergerüchen kitzelte in seiner Nase. Er trat in den Billardsalon und ließ den Blick durch den überfüllten Raum schweifen wie ein Radar. Die vier Billardtische in der Raummitte sowie die Sitznischen an der Wand waren besetzt. Die Billardkugeln klickten im schmutzig-grauen Zigarettenqualm, ein paar Mädchen tanzten selbstvergessen im Rauch, und die Männer, die sich über die Tische beugten, um sich abzustützen, sahen nicht so aus, als hätten sie mehr Substanz als Gespenster.
An der Bar waren noch ein paar Hocker frei. Marlon ging an den Tresen und setzte sich neben einen speckigen Kerl Mitte vierzig, der einen Leinenanzug mit Harlekinmuster trug. Mit seiner Brille und seinem Hut sah er aus wie ein Kassenprüfer – abgesehen von seinem Mardi-Gras-Anzug.
Marlon bestellte ein Red Stripe, schob vier Scheine über den Tresen und musterte die Wand – eine beleuchtete Spiegelfläche mit Metallregalen, auf denen Gläser und Flaschen kunstvoll gestapelt waren. Zwischen den Flaschen blickte er in sein Spiegelbild. Der Mann, der den Blick aus dem gelblichen Spiegel erwiderte, trug Schwarz. Das war fast immer so. Schwarz war seine Farbe. Schwarz passte zu seiner Augenfarbe und betonte sein dichtes goldblondes Haar, das ihm nur scheinbar wie zufällig in die Stirn fiel. In Schwarz verschmolz er perfekt mit den Schatten der Nacht. Er
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