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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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achtete stets sehr sorgfältig auf seine Frisur und seine Garderobe und vertrat die Ansicht, dass Kleider ebenso wie Lebensmittel ein Verfallsdatum haben sollten.
    Die Bedienung brachte ihm das Bier, ließ die Scheine in eine unsichtbare Tasche ihrer Schürze gleiten und schenkte ein. Marlon fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, nahm eine Handvoll Erdnüsse, die in einer Schale vor ihm standen, und trank einen großen Schluck. Der kurzsichtige Kassenprüfer musterte ihn und fragte: »Trinken Sie gern ausländisches Bier?«
    Marlon sah auf und kaute die salzigen Nüsse. Ja, du Fettsack mit deinen beschlagenen Brillengläsern in deiner leberfleckigen Fresse und mit deiner Billigzigarette, die im Mundwinkel parkt. Klar tue ich das. Marlon hatte keine Lust auf sinnentleertes Geschwätz mit Fremden im Clownskostüm und auch mit sonst niemandem. Ihm stand nicht der Sinn danach, seine Lebensgeschichte zu erzählen, aber er wusste auch, dass das keine unfreundliche Bemerkung gewesen war – der Typ war nicht auf Streit aus –, sondern nur eine Beobachtung, formuliert als geistesschwache Frage mit nasalem Südstaatenakzent.
    Während Marlon ein breites Grinsen aufsetzte und mit den Schultern zuckte, stellte er sich vor, wie der Kerl aussehen würde mit seinen Klöten in einer Plastiktüte um den Hals und mit von Kontaktkleber verschlossenen Augen.
    Er wandte sich ab, um nicht an dem Schwall von Gleichgültigkeiten zu ersticken, der zweifelsohne von links im Anmarsch war. Sein Grinsen erstarb augenblicklich beim Anblick des Bananenpflückers auf der anderen Seite, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. So bezeichnete Marlon die Schwarzen. Es gab nur eine Kategorie Mensch, die er noch weniger ausstehen konnte als Schwule, und das waren die Farbigen. Sie waren dazu da, Schafe zu ficken, Klos zu putzen und Hühnerdreck zu beseitigen – so rochen sie normalerweise auch, aber heutzutage wurden sogar Präsidenten und alles Mögliche aus ihnen. Bei dem Gedanken bekam er eine Gänsehaut.
    Die Welt war ein gigantischer Abort geworden.
    Man musste sich mit enorm viel Zeug abfinden, bevor man sich zur Ruhe bettete, dachte er und versuchte, seine Irritation zu verbergen, aber das Adrenalin pulste durch seine Blutbahn, und er konnte die Aggressivität, die sein Nervensystem durchströmte, nur schwer in Schach halten. Natürlich war es keine gute Idee, eine Schlägerei anzuzetteln. Überhaupt keine gute Idee. Außerdem glaubte er zu wissen, wer der Mann war (was sicherlich auf Gegenseitigkeit beruhte): Er war Gemeindemitglied drüben in der Baptistenkirche. Ein guter Christ. Aber wollte er wirklich hier sitzen, im Dunstkreis von diesem Psalmenkrämer? Auf gar keinen Fall! Der Kerl war so schwarz wie der Hinterausgang eines Grubenarbeiters!
    »Der Stuhl ist besetzt, Macker«, sagte er und nickte Richtung Hocker, während er bitter dachte, dass er über die perfekte Baptistenharmonie verfügte: Es war wirklich gesegneter zu geben als zu empfangen, besonders wenn es um einen gebrochenen Kiefer und ein paar ausgeschlagene Schneidezähne im Hals ging. Er dachte daran, wie gut sich das abgebrochene Eisenrohr, das er im Auto liegen hatte, dafür eignen würde.
    Der Baptisten-Zambo schien gar nicht zu hören, was er sagte. Er spielt mit einem silbernen Kreuz, das an einer dünnen Kette um seinen Hals hing, nickte im Takt der Musik mit dem Kopf und freute sich offenbar darüber, dass er es sich hier gemütlich machen konnte.
    Marlon hatte nicht die Absicht, sich das gefallen zu lassen. Eine Niederlage akzeptierte er nie. Er räusperte sich, warf dem Mann einen Blick zu, als wäre er mit Schmeißfliegen übersät, und brüllte, um die Musik zu übertönen: »Hallo! Ich rede mit dir, Bruder!«
    Der Typ hob die Brauen, und seine hervorstehenden schwarzen Augen schienen aus ihren Höhlen zu fallen. »Meinen Sie mich?«
    Ach, er siezt mich, dachte Marlon. Man gibt sich sogar noch höflich, obwohl die bloße Anwesenheit die Luft schon mit dem Gestank von Hühnerdreck verpestet. »Ja.« Marlon zog die Nase hoch. »Der Stuhl, auf dem du sitzt, ist besetzt.«
    »Ach so?« Die glatte, braune Haut des Mannes glänzte im Schein der bunten Lichter wie feuchter Lehm.
    Marlon nickte. »Ja, meine Freundin sitzt da.«
    »Freundin? … Welche Freundin?« Er sah sich um.
    Offensichtlich hatte er Hühnerdreck in den Ohren. »Meine Freundin!«
    »Ja, aber wie kann das sein? Ich meine … Sie sind gerade erst gekommen, und Ihre Freundin ist gar nicht hier.«
    »Nein,

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