Schlaf, Kindlein, schlaf
aber sie braucht den Stuhl gleich.«
Sie sahen sich an. Marlon zuckte mit keiner Wimper. Der andere blinzelte pausenlos und senkte schließlich den Blick.
Er hat Angst vor dir, dachte Marlon. Er lehnte sich ein Stück vor, damit er die unsichtbare Grenze überschreiten konnte, die den persönlichen Raum des Mannes markierte. Allerdings hatte er nicht im Geringsten vor, irgendetwas mit dem schwarzen Schwein zu teilen – nicht einmal Luft –, und er sagte mit gesenkter Stimme: »Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass Sie gerade dabei sind, sich in eine üble Klemme zu manövrieren.« Marlon blickte ihn starr an und bekam plötzlich Lust zu lachen. »In eine üblere, als Sie vielleicht ahnen …«
Marlon strich sich eine goldblonde Haarsträhne aus der Stirn.
Der Idiot hielt seinem Blick lange stand, als bräuchte er Zeit, um die Wörter zu verdauen und ihre Bedeutung zu dechiffrieren, dann beugte er sich Marlons Überlegenheit. »Hören Sie, ich will keinen Streit«, gab er mit – wie Marlon es deutete – herablassendem Wohlwollen zurück. »Wenn Sie sagen, dass Ihre Freundin hier zuerst saß …« Ein Mundwinkel kräuselte sich nach oben, als stünde er über Dingen wie diesen.
Marlon hatte noch mehr Lust, ihn zum Auto zu begleiten, ihm sein Grinsen zwischen seinen Schneidezähnen breit zu treten und noch ein paar andere Dinge klarzustellen, doch er widerstand der Versuchung. Das Blut rauschte in seinen Adern, und der Puls pochte in seinen Schläfen, aber er sah nur zu, wie der Hohlkopf ohne Eile seinen Bourbon nahm, vom Stuhl kletterte, die Hose zurechtrückte und von dannen zog.
Marlon atmete ein und inhalierte die feuchte Luft bis tief in die Lungen, während er bis zehn zählte. Er fühlte sich gedemütigt und schwitzte, unterdrückte jedoch seine Gewaltbereitschaft in dem Wissen, dass sie noch vor Tagesanbruch Verwendung finden würde: Der eine oder andere würde eines schmerzvollen Todes sterben.
Bald.
Aus Erfahrung wusste er, dass Arschlöcher Brüder und Schwestern hatten, und er ließ den Blick sorgfältig schweifen, um sicherzugehen, dass niemand mit einer abgeschlagenen Flasche auf ihn wartete. Ihm fiel eine junge Frau auf, die ihn musterte. Sie war nicht zum ersten Mal in der Goldmine. Er nahm einen Schluck von seinem Bier, zwinkerte ihr durch den Zigarettenqualm hindurch zu und lachte in sich hinein. Ihr dunkles Haar war schulterlang und verdeckte ein Auge, ihre Lippen waren kirschrot. Ihm fiel außerdem auf, dass ihre Augen gerötet waren und glänzten, als hätte sie geweint; vielleicht hatte sie sich mit ihrem Freund gestritten, dachte er. Marlon hatte die besondere Gabe zu analysieren, was in den Menschen vorging und was sie zu verbergen versuchten. Nicht lange und sie würde zu ihm an die Bar kommen, das wusste er. Er wusste auch, dass er ihr nicht mal ein Bier ausgeben musste. Er folgte ihr mit dem Blick, während sie den Stuhl vom Tisch wegschob und ihre Habseligkeiten zusammensuchte. Ihre gesamte Erscheinung schrie nach einer Aufreißtour. Sie trug eine hautenge Cowboyhose und ein pinkfarbenes Oberteil mit Spaghettiträgern, das sowohl ihren Sonnenbrand als auch ihren Silikonbusen betonte. Marlon bemerkte aus dem Augenwinkel, dass sie eine schmale Taille und einen kleinen, strammen Hintern hatte, aber er war nicht neugierig genug, um das genauer in Augenschein zu nehmen. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Außerdem war eine andere Spielfigur auf der Bildfläche erschienen, die ihn weitaus mehr interessierte. Ihm war eine blonde junge Frau aufgefallen, die ihn musterte. Sie versuchte, das – ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Mädels im Lokal – zu verbergen. Deshalb war sie ihm überhaupt erst aufgefallen. Er war es gewohnt, dass die Frauen sich nach ihm umdrehten. Aber das erklärte nicht das unentwegte Starren, mit dem sie ihn musterte, wenn sie dachte, er bemerke es nicht.
Sie war hübsch. Keine Frage. Aber nicht auf die direkte, herausfordernde Art, wie die Models in den Zeitschriften. Sie hatte eine andere Schönheit – eine nach innen gekehrte, beinahe poetische Schönheit, die jeden Augenblick zu zerbrechen drohte, es jedoch nicht tat –, und er wäre nicht überrascht, wenn ihr selbst das gar nicht bewusst war. Marlon versuchte, seine Aufregung zu bändigen. Sie war nicht von hier.
Die Blondine senkte sofort den Blick. Verstohlen betrachtete er ihr Gesicht, den olivfarbenen Schimmer ihrer Haut, die matt glänzenden Lippen. Sie fächelte sich mit der
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