Schlaf, Kindlein, schlaf
geraschelt?
Sie legte den Kopf schief und lauschte.
Nichts. Es war wieder still.
Vielleicht hatte eine Ratte oder Maus ihre Beute gejagt. Máire schauderte. Dann war sie jedenfalls nicht in Gefahr.
Eine halbe Minute hörte sie keinen weiteren Laut, dann schlich sie weiter. Sie hob die Taschenlampe und ließ ihren Blick umherwandern, der sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatte. An der linken Seite des Gangs konnte sie die Umrisse einer Tür mit einer Glasscheibe erkennen. Sie drückte die Klinke, stellte fest, dass die Tür verschlossen war, fackelte nicht lange und zerschlug mit dem Schaft ihrer Lampe die Scheibe. Sie splitterte in einem Scherbenregen. Falls oben jemand im Haus war, wusste er jetzt, dass Máire sich im Keller aufhielt. Sie wartete, ob jemand mit Baseballschläger oder Gewehr bewaffnet heruntergerannt kommen würde, aber niemand erschien, und im Keller blieb es dunkel und still. Sie entfernte rasch die Scherben aus dem Türrahmen und zwängte sich hindurch.
Der Boden war gefliest und der Raum weiß gestrichen. Mehrere weiß glänzende Archivschränke standen an einer Wand, und es war so kalt wie in einem Gefrierschrank. Sie spürte, wie sie vom Scheitel bis zur Sohle eine Gänsehaut bekam. Es stank nach Tod, Verwesung und Formaldehyd, aber alles war blitzblank sauber und zeugte von einer schon fast krankhaften Gründlichkeit und Präzision. Unter der Decke hingen vier große Lampen, wie man sie aus OP-Sälen kennt.
»Zum Teufel!«, entfuhr es Máire, und sie merkte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte, als sie den bernsteinfarbenen Lichtschein ihrer Taschenlampe auf den Stahltisch unter den Lampen richtete und die Ursache des Verwesungsgeruchs entlarvte: die gepuderten Überreste einer jungen Frau, die mal sehr lebendig gewesen war. Von den Schultern bis zu den Füßen war sie von einem weißen Laken bedeckt, die ordentlich gefalteten Hände umschlossen einen Rosenkranz und ein Kruzifix. Wangen und Mund leuchteten rot von Rouge und Lippenstift und ließen sie eher unheimlich als natürlich aussehen. Auf jeden Fall sah all das dem Werk des Maskenbildners, der auch C.J. geschminkt hatte, sehr ähnlich.
Máire spürte, wie ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat, und versuchte, das Zähneklappern zu unterdrücken. Obwohl sie eine makabere Entdeckung gemacht hatte und es irgendwie verdächtig war, dass der Typ eine Leiche im Keller liegen hatte, war er trotz allem Bestatter. Sie wog die Situation ab: War es seltsam genug, dass sie die Polizei rufen konnte? Sie ermahnte sich, dass sie der Sache nicht zu viel Bedeutung beimessen sollte, denn hier bewahrte er offenbar die Leichen auf und schminkte sie für ihre letzte Reise – dass es dafür kalt genug war, stand außer Frage. Und in seinen Räumlichkeiten in der Stadt nahm er die Angehörigen in Empfang. Wenn man auf dem Grundstück eines Bestatters herumschlich, musste man wohl mit makaberen Entdeckungen rechnen. So musste es sein. Außerdem sah die Frau auf dem Stahltisch nicht danach aus, als wäre sie unter mörderischen beziehungsweise allgemein gewalttätigen Umständen ums Leben gekommen.
Máire holte tief Luft, denn der Gestank drohte sie zu ersticken, umrundete den starren Körper und schauderte unwillkürlich.
Hinten im Raum war neben einer Tür aus Milchglas eine große Glasvitrine an der Wand befestigt. Sie war bis zum Bersten gefüllt mit Flaschen, in denen sich Balsamierungsflüssigkeiten, Gifte und andere Chemikalien befanden, mit Tiegeln, Tuben, chirurgischen Instrumenten und großen Schachteln mit Watte und Verbänden. Aus den Etiketten ging hervor, was jede einzelne Tube und Flasche enthielt, aber weil Máire nicht mal wusste, was genau eigentlich Gelatine war, sagten ihr die Aufschriften überhaupt nichts.
Sie öffnete die Milchglastür und entdeckte die Umrisse von etwas Großem, Gespenstischem hinten im Raum: der Ofen, in dem die Leichen eingeäschert wurden. Sie wurde von Kälteschauern geschüttelt und machte die Tür schnell wieder zu.
Unter der Vitrine hatte ein breiter Arbeitstisch mit Computern inklusive Zubehör seinen Platz: Bildschirme, Tastaturen, Digitalkameras, Kartenleser und vieles mehr, was ihr nichts sagte. Ein leuchtender Bildschirmschoner bewegte sich auf einem Monitor hin und her und schien hell genug, dass ihr Blick auf ein großes Sammelbuch für Zeitungsausschnitte fiel. Plötzlich beschlich sie das starke Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief und die Dunkelheit des Kellers sich an ihren
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