Schlaf, Kindlein, schlaf
Nacken klammerte. Sie sehnte sich danach, wieder ins Freie zu kommen. Aber die Neugier brachte sie dazu, das Sammelalbum aufzuschlagen und darin zu blättern. Die Seiten waren sperrig wegen der eingeklebten Fotos, Zeitungsartikel und Haarlocken. Aber nichts darin ergab für sie einen Sinn, und sie schlug es wieder zu. Ein Gewerbeschein hing eingerahmt neben einem Abschlussexamen an der Wand unter der Vitrine. Máire las sie, aber sie verrieten nur, dass Marlon LeBelle eine anerkannte Ausbildung absolviert und die entsprechenden Examina abgelegt hatte.
Sie trat vor die Schubladen und begann, sie zu durchwühlen. In der obersten lagen zwei Fotos. Sie hielt den Lichtkegel darauf. Das erste Bild zeigte eine hübsche, elfenhafte junge Frau um die zwanzig in hellgrünem Rock und weißer Hemdbluse, die auf einem Segelboot stand. Das zweite Bild war an einem anderen Tag aufgenommen worden. Es zeigte dieselbe Frau, nun trug sie weiße Jeans und eine getupfte Bluse. Máire stieß einen Schrei aus und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Die Frau war jünger, die Fotos wiesen mehrere Knicke auf und ließen das Gesicht der Frau leicht verzerrt erscheinen, aber Máire zweifelte keine Sekunde daran, um wen es sich handelte.
Es war C.J.
Máires Körper fühlte sich auf einmal schwer und leblos an, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich nicht von der Stelle rühren könnte, würde sie es versuchen. Hektisch durchsuchten ihre Hände die Schubladen und fanden ein drittes Bild. Sie starrte es mit großen aufgerissenen Augen an. Leichenblass.
»Oh Gott!«, hauchte sie. »Oh Gott im Himmel!« Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie spürte Herzstiche, und ihr blieb die Luft weg. Valerie!
Máire starrte ungläubig das Bild an. Ihre Hände und Arme schlotterten, dann wurde ihr ganzer Körper von einem Zittern ergriffen. Das Foto war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme und zeigte Valerie, die wie Jesus am Kreuz hing. Sie trug große seidene Fledermausschwingen und zahllose schwarze Perlenketten. Die Ketten sowie ihr langes dichtes Haar bedeckten ihre Brüste, davon abgesehen war sie nackt. Im Gegensatz zu Jesus war sie mit den Handgelenken und Fußknöcheln mit schwarzen Seidentüchern am Kreuz festgebunden, und die Dornenkrone auf dem Haupt war durch eine enge Kapuze mit abstehenden Metallstacheln ersetzt worden. Um den Hals trug sie etwas, das an Stacheldraht erinnerte, ins Fleisch schnitt und zwischen den Perlenketten schimmerte. Sie war im Grufti-Stil geschminkt wie Marilyn Manson mit schwarzen glänzenden Lippen und ebensolchem Lidschatten. Ihr Gesicht war weiß wie eine Oblate. Der Mund stand offen, ihr Blick starr vor Angst und Schmerz, unwiederbringlich tot …
Der Schock versetzte Máire in Atemnot, und es fühlte sich an, als würde noch etwas anderes außer Blut – etwas Kaltes, Hasserfülltes – durch ihre Adern rauschen und ihr Herz in einen Eisblock verwandeln. Ihr wurde schwindelig, aber sie zwang ihre Hände, das Bild still zu halten, und ihren Blick, nicht auszuweichen.
»Oh Gott, oh Gott, oh Gott«, hörte sie sich selbst wiederholen. Sie war tot? Valerie war tot! Nach zwölf Jahren Freundschaft würde sie Valerie nie wiedersehen. Máire schluchzte. Was zum Teufel machte Valerie hier? Sie überwand sich, das Foto mit der Fingerkuppe zu berühren. Ihr lief es kalt den Rücken hinunter, und sie merkte, dass sie kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Alles wurde unscharf wie in einem schrecklichen Albtraum.
Sie sackte neben dem Schreibtisch zusammen und blieb an ein Tischbein gelehnt auf der Erde sitzen, während sie nach Luft rang. Die Trauer ging ihr durch Mark und Bein und drohte, sie zu ersticken. Sie starrte das Foto unentwegt an.
»Was hat er bloß mit dir gemacht?«, fragte Máire das Bild, doch die Antwort blieb aus.
Oh Gott. Máires Magen zog sich zusammen, Tränen rannen ihre Wangen hinab. Was immer er getan hatte, es war vorbei …
Ihr entfuhr ein Schrei, den sie nicht rechtzeitig hatte zurückhalten können. Sie presste ihre Hände vor den Mund und schluchzte. Sie schloss die Augen und drückte die Fotografie an sich, hielt sie fest, als wäre sie aus Fleisch und Blut, während sie ihren Körper hin und her wiegte wie eine Mutter, die ihr totes Kind im Arm hält, um es noch ein bisschen länger bei sich zu haben.
»Valerie, Valerie, oh Valerie …«
Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte. Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Sie fühlte sich krank. Krank und elend. Sie fror, als
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