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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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sympathisch ungekämmt. Er war unglaublich blass, und seine Gesichtszüge hatten eine eigenartige Ähnlichkeit mit denen einer Frau; jedes Fältchen und jeder Pigmentfleck schienen bewusst platziert worden zu sein, um seine Schönheit hervorzuheben. Sie musterte ihn nachdenklich. Er war gekonnt verkleidet, dachte sie. Nach seinem Äußeren zu urteilen, sah er keineswegs wie jemand aus, der kaltblütig Frauen gegen ihren Willen einsperrte, und schon gar nicht wie einer, dem es schwerfiel, den Frauen zu gefallen … und trotzdem … Vielleicht war er noch viel gefährlicher, gerade weil seine Verkleidung so perfekt war.
    Sie überlegte, welchen Eindruck die Leute im Allgemeinen von ihm haben mochten. Die meisten Frauen fanden ihn sicher ungeheuer attraktiv trotz seines unschönen Berufs. Und die Männer sahen in ihm zweifellos und berechtigterweise eine doppelte Bedrohung. In gewisser Weise wirkte er, als sähe er sich auch selbst so.
    Máire dachte darüber nach. Doch ihr fiel nichts Konkretes ein. Irgendwas stimmte einfach nicht mit ihm. Außer dass sie die Aura des Bösen spürte, die ihn umgab, konnte sie nicht erklären, warum sie sicher war, dass irgendwas an ihm faul war. Aber sie wusste es, ganz bestimmt. Er war einfach ein bisschen zu makellos und glatt, als würde er nur die Sonnenseite des Lebens kennen. Hinter seinem Lächeln lauerte ein Anflug von etwas bei Weitem nicht mehr so Charmantem. Etwas anderes … Unbeschreibliches … das außerhalb ihrer Reichweite lag, das wusste sie mit Sicherheit.
    Oder vielleicht bildest du dir das alles nur ein? Wie sah die Wahrheit wirklich aus?
    Andererseits …
    Die Wirklichkeit übertraf fast immer die Fantasie.
    Sie musste an einen Zeitungsartikel denken, den sie gelesen hatte, über das Monster in Europa – in Österreich, genau gesagt. Der Mann hatte seine Tochter und mehrere ihrer Kinder den Großteil ihres Lebens in einem Kellerverlies in seinem Wohnhaus eingesperrt. In dieser Zeit hat er wie ein Unmensch Kinder mit ihr gezeugt und gleichzeitig vorgegeben, der liebende Ehemann, fürsorgliche Vater und nette Nachbar zu sein. Sie dachte daran, wie ihm die Behörden, Angehörigen und Nachbarn allesamt die Geschichte von den Enkelkindern abgekauft hatten, die bei Nacht und Nebel mit einer unleserlichen Notiz seiner »verschwundenen« Tochter, sie könne sich nicht selbst um die Kinder kümmern, weil sie Mitglied einer geheimen Sekte sei, vor seiner Haustür abgelegt worden waren. Wie glaubwürdig war denn so was? Bei genauerem Überlegen war es völlig unmöglich, sich das vorzustellen. Trotzdem war es passiert – über zwanzig Jahre lang, auch wenn man das nicht glauben mochte.
    Máire saß weniger als zehn Meter von Marlon LeBelle entfernt und dachte, dass man unmöglich sagen konnte, was in den Menschen vorging, bevor man sie öffnete und hineinsah.
    Er sah sich ein wenig um und bekam Augenkontakt mit einem Mädchen. Máire kratzte sich an der Nase, um ihr Gesicht zu verbergen, musterte ihn beiläufig und ließ ihren Blick weiterwandern. Sie wollte seine Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken und die einzige Frau sein, die ihn keines Blickes würdigte. Soweit sie das feststellen konnte, war sie ihm noch nicht aufgefallen. Es waren viele Leute gekommen, sodass sie leicht in der Menge untertauchen konnte, aber sie war trotzdem nervös. Diese Verfolgungsjagd kam ihr ein wenig unheimlich und bisweilen absurd vor. Was, wenn er nur ein ganz gewöhnlicher, unschuldiger Mann war? Oder schlimmer noch – was, wenn er es wirklich war?
    Sie holte tief Luft.
    Es half alles nichts, sie musste es selbst herausfinden und den nächsten Schritt wagen. Ihr kam es so vor, als unternähme sie etwas unfassbar Wichtiges. Ein Gefühl sagte ihr, dass er etwas damit zu tun hatte. Und dieses Gefühl entstand aus nichts anderem als Überzeugung.
    Sie bemerkte, dass er aufstand und sich in Richtung Toiletten durch die Menge schob. Kurz darauf kehrte er zurück, setzte sich wieder an die Bar und unterhielt sich mit dem Mädchen, das sich auf den freien Barhocker neben ihn gesetzt hatte. Máire musterte sein blutleeres Gesicht, während er einen Rum bestellte.
    Máire hatte einen Entschluss gefasst. Aufgeben war ausgeschlossen. Sie musste die Sache so in die Hand nehmen, wie es ihr das Gewissen gebot. Es gab keine Alternative. Nur so konnte es sein, wollte sie diese Sache zu einem Ende bringen.
    Máire erhob sich und verließ vor ihm die Bar.

21
     
    Die Abenddämmerung war angebrochen, die

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