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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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Hose und über den Kopf. Er war breitschultrig wie ein Waldarbeiter, und schloss man von seiner Hautfarbe auf seinen Zustand, war er tot. Sein schweißüberströmter Oberkörper glänzte in der mondhellen Nacht wie weißer Marmor. Vor Schreck bekam sie eine Gänsehaut und zuckte angewidert zurück. Er wollte sie vergewaltigen! Sie stieß mit dem Rücken gegen etwas Spitzes, ohne es zu merken.
    Er legte die Taschenlampe, die er an einer Schnur um den Hals trug, auf die Erde, aber anstatt seine restliche Kleidung abzulegen und sich auf sie zu stürzen, wie sie erwartet hatte, griff er nach der Schaufel, stieß sie mitten in ein dunkles Rechteck regennasser Erde und begann zu graben.
    Die Erleichterung darüber, dass er trotz allem nicht beabsichtigte, sie zu vergewaltigen, wurde von einem neuen Angstschub abgelöst. »Willst du mich erschlagen und dann begraben?«, fragte sie ungläubig. Ihr Herz raste, und sie zitterte am ganzen Körper.
    Er fuhr schweigend fort, ihr Grab auszuheben.
    Wenn das ein psychologischer Trick war, um ihr Angst einzujagen, funktionierte er einwandfrei. Aber das glaubte sie nicht. Ebenso wenig glaubte sie, ihn reinlegen oder überlisten zu können. Vielleicht konnte sie etwas Zeit schinden? Sich etwas ausdenken? Aber was?
    »Ich kann dir auch gleich sagen, dass ich keine Angst vorm Sterben habe«, sagte Máire und lachte ein hohles schepperndes Lachen.
    Er sah hoch. Sein Gesicht war ausdruckslos und wächsern, wie bei einer Leiche, bevor sie geschminkt wird. In seinen Augen war nichts anderes als ein eiskalter Mangel an Barmherzigkeit und Mitgefühl zu finden – gelinde gesagt. »Halt die Fresse, sonst schneide ich dir deine Titten ab und stopfe sie dir in den Hals!«
    Máire blickte verstohlen nach links. Das Gewehr lag zwischen ihnen. Vielleicht gelang es ihr, sich so weit nach vorn zu rollen, dass sie es erreichen konnte, während er grub. Die Chance stand eins zu einer Million, dass ihr das mit gefesselten Armen und Beinen gelang. Oder eher noch eins zu zwei Millionen. Und es war kein echter Plan, aber die einzige Hoffnung, die sie hatte. Wenn sie ihn nur etwas näher zu sich herüberlocken könnte …
    »Stimmt es, dass perverse Schweine wie du eigentlich nur verkappte Schwule sind, die ihn nicht hochkriegen können?«, sagte Máire und versuchte, ruhig zu sprechen. »Trainiert ihr alle, um so wie Schwarzenegger auszusehen? … Ich meine, um zu vertuschen, dass ihr auf Arschlöcher steht?«
    »Verfluchtes Miststück!«, brüllte er. Er ließ den Spaten fallen, trat einen Schritt auf sie zu und holte zu einer Ohrfeige aus. Sein Handrücken traf ihren Kiefer mit lähmender Wucht. Sie rollte zur Seite. Der Schmerz stach wie eine Flamme, sie biss sich auf die Zunge und schmeckte Blut. Sie spuckte aus und bewegte sich kaum merklich weiter nach links. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass das Gewehr jetzt keine drei Meter von ihr entfernt lag. Aber sie konnte sich nicht so weit vorrobben, ohne dass er etwas davon bemerkte. Und das Manöver würde sie zweifelsohne das Leben kosten. Was sollte sie nur tun?
    »Na, da habe ich wohl einen empfindlichen Punkt getroffen, was?«
    »Habe ich dir nicht gesagt, dass du die Fresse halten sollst?«, brüllte er und zog sie an den Haaren vor das Grab. Sie schrie vor Schmerz auf. Sie blinzelte hektisch und hob ihre Arme, um die nächste Ohrfeige abzuwehren. Aber er drehte sich um und grub weiter.
    Sie war näher an das Gewehr herangerückt.
    Aber ihr lief eindeutig die Zeit davon. Das Grab nahm immer deutlichere Formen an, selbst bei Dunkelheit, und die Arbeit bereitete ihm keine Mühe. Die Spatenstiche hallten im Wald wider, und der Erdhaufen wuchs verblüffend schnell.
    Oh Gott, hilf mir!
    Sie spürte, wie sich Blut im Mund sammelte, und spuckte aus. »Hatten deine Eltern dich nicht lieb?«, fragte sie.
    Er schwieg.
    Sie machte einen zweiten Versuch. »Vielleicht konnten sie schleimige Arschlöcher nicht leiden?«
    Sie öffnete langsam die Finger und schloss sie wieder. Sie fühlten sich wie zehn dicke Würste an, und sie befürchtete ernsthaft, dass sie nicht mehr zu gebrauchen waren, wenn sie sie am dringendsten benötigte. Außerdem hatte sie noch nie in ihrem Leben auf jemanden geschossen und nicht die geringste Ahnung von Schusswaffen. Sie bewegte die Füße. Die Zehen waren taub, die Knie fühlten sich wie Gummi an. Das war kein gutes Zeichen.
    Er stand im Grab und schaufelte Erde nach oben. Dabei konnte sie seinen Kopf und seine Schulterpartie

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