Schlaf, Kindlein, schlaf
Ruck. Sie drehte den Kopf zur Seite, befreite sich für ein paar Sekunden von dem Tuch und schrie so laut sie konnte. Doch im nächsten Augenblick wurde ihr der Stoff wieder vor Mund und Nase gedrückt. Sie ruderte mit den Armen und zappelte kräftig mit den Beinen, während sie mit zusammengebissenen Zähnen die Luft anzuhalten versuchte.
Das Tuch war mit einer Flüssigkeit getränkt, die ihre Augen tränen ließ, und in ihrem Gesicht breitete sich ein taubes Gefühl aus. Sie warf einen Blick durch die Frontscheibe, wo die sternenklare Nacht ein Muster aus indigoblauen Flecken bildete, die miteinander verschmolzen und sich in der Dunkelheit auflösten. Dann entwich die Luft aus ihren Lungen, und sie hörte ihren pfeifenden Atem und die Gurgellaute ihrer Kehle. Sie versuchte zu schreien, aber es hörte sie sowieso niemand – außer sie selbst, der Sensenmann auf der Rückbank und die grünen Eichen.
Máire riss die Augen auf und starrte in die Dunkelheit. In ihrem Blickfeld schwankten unscharfe Schatten, hinter ihrer Stirn und in ihren Ohren dröhnte es, und sie begriff, dass sie kopfüber getragen wurde. Sie blinzelte, um klarer zu sehen, und erahnte die verschwommene Silhouette eines breiten Rückens, gegen den sie rhythmisch schlug. Sie konnte die Gesäßtaschen einer verschlissenen Jeans erkennen sowie die Rückseite von einem Paar Gummistiefeln mit hohem Schaft. Vor ihrer Stirn wurde ihr Haar von dem schwachen Wind leicht hin und her geweht. Sie hob das Kinn und ließ ihren Blick nach rechts gleiten. Eine Schaufel oder ein Spaten wurde von einer Hand getragen, am dazugehörigen Arm zeichneten sich die Muskeln und Sehnen wie Tauwerk unter der Haut ab.
Wie ein Sack Kartoffeln baumelte Máire über der Schulter des Mannes, ihr Brustkorb drückte gegen seine Schulter, die bei jedem Schritt Luft aus ihrer Lunge presste.
Zuerst konnte sie sich nur daran erinnern, dass sie in das Haus eingedrungen war, aber jetzt kam alles wieder zurück: das Haus, das Klangspiel, die schmalen unterirdischen Gänge, die Leiche, die Finsternis, der Schatten im Rückspiegel. Val …
Kalter Schweiß perlte auf ihre Haut, und ihr Hals fühlte sich trocken an und brannte. Voller Angst starrte sie auf ihre Arme, die wie überflüssige Fortsätze neben ihrem Kopf schlenkerten. Ihre Handgelenke waren fest zusammengebunden mit einem durchsichtigen Kunststoffband, das die Blutzufuhr einschränkte. Abwesend registrierte sie, dass sie auch kein Gefühl mehr in den Füßen hatte. Sicher waren sie auf die gleiche Weise gefesselt.
Sie konnte nur sich selbst Vorwürfe machen. Natürlich hätte sie daran denken müssen, dass ein Mörder sehr gefährlich werden konnte, wenn man ihn in die Enge trieb wie eine Ratte.
Sie konnte seine angestrengten Atemzüge und das schmatzende Geräusch seiner Gummistiefel auf dem Waldboden hören, wenn er unter ihrem Gewicht ins Schwanken geriet. Sie überlegte, was sie tun konnte. Vielleicht wäre sie stark genug, um ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber nicht um ihre Beine zu befreien und ihn ins Gesicht zu treten. Und sie wusste, dass es ihn reizen würde, wenn sie zu schreien anfing und um Hilfe rief. Diese Befriedigung wollte sie ihm nicht geben. Außerdem würde sie sowieso niemand hören.
Sie drehte ihren Oberkörper ein wenig, sodass sie die Lunge leichter mit Luft füllen konnte, und blickte zurück. Sie wusste nicht, wie lange sie nicht bei Bewusstsein gewesen war, aber es war noch immer dunkel. Der Mond stand hoch am Himmel und warf kleine funkelnde Silberstreifen in die Pfützen. Sie befanden sich in einem Wald oder einer Plantage – überall Bäume, so weit das Auge reichte –, aber sie wusste nicht in welchem oder welcher.
Nach einer Weile blieb er stehen, um sich zu orientieren, dann setzte er seinen Weg zwischen den Bäumen fort und ging eine Böschung hinauf. Als er auf der anderen Seite anlangte, die talwärts führte, hielt er wieder inne, ging in die Hocke und legte sie unter den riesigen smaragdgrünen Eichenkronen auf die Erde. Durch die dünne Bluse fühlte sich die Erde feucht und glitschig an.
Sie musterte ihn. Es war Marlon LeBelle.
Einen atemlosen Augenblick starrte er sie an. Eine gefühlte Ewigkeit lang, aber Máire zwang sich, den Blick nicht zu senken. Er brauchte nicht zu wissen, wie groß ihre Angst war. Er sah aus wie das Böse in Person.
Ein Jagdgewehr baumelte über seiner Schulter. Er nahm es ab und legte es auf den Boden. Dann zog er das T-Shirt aus der
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