Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
geflüsterten Dankeschön, dass man weiche Knie bekommt. In solchen Augenblicken weiß ich, warum ich
Krankenschwester geworden bin, und wenn mich das zu einer hoffnungslosen, albern sentimentalen Romantikerin macht, dann ist mir das auch egal.
Wahrscheinlich ist es diese Eigenschaft, die mich zu einem so leichten Opfer macht. Ich leide wie Anne Frank an dem Irrglauben, dass alle Menschen von Grund auf gut sind.
Ich stellte den Wagen auf dem Mitarbeiterparkplatz vor dem Haus ab und ging durch den Haupteingang vorbei an der Geschenkboutique und der Apotheke, die erst in ein paar Stunden aufmachen würde, zu der bereits bevölkerten Cafeteria, wo ich mich für einen geschmacklosen schwarzen Kaffee und ein fettarmes Preiselbeer-Muffin anstellte. Ich dachte an Alison und ihre Leidenschaft für Preiselbeeren. In irgendeiner meiner Küchenschubladen hatte ich ein Rezept für Bananen-Preiselbeer-Muffins, und ich beschloss, ein Blech davon zu backen, wenn ich nach Hause kam.
Die Verwaltung war erst ab neun Uhr geöffnet. Ich nahm mir vor, später kurz dort vorbeizuschauen, um nach Alisons Freundin Rita Bishop zu fragen. Alison hatte zwar gesagt, dass ich mir keine Umstände machen sollte, aber ich dachte, dass ein Versuch nicht schaden würde. Vielleicht hatte Rita eine Nachsendeadresse hinterlassen, oder eine der Sekretärinnen wusste, wohin sie gezogen war.
Als die Tür des quälend langsamen Fahrstuhls sich endlich im vierten Stock öffnete, hatte ich meinen Kaffee schon ausgetrunken und das Muffin zur Hälfte gegessen. Am Schwesterntresen herrschte bereits rege Geschäftigkeit. »Was gibt’s?«, fragte ich Margot King, eine stämmige Frau mit einer Haarfarbe irgendwo zwischen Kupfer und Orange und blauen Kontaktlinsen. Margot arbeitete seit mehr als zehn Jahren in der Mission-Care-Klinik, und in dieser Zeit hatte die Farbe ihrer Augen beinahe so oft gewechselt wie die ihrer Haare. Konstant blieb nur das Weiß ihrer Uniform, ein frisches Alpinweiß, und ihre Hautfarbe, die erstaunlich tiefschwarz war.
»Ein Vergewaltigungsopfer«, antwortete Margot flüsternd.
»Ein Vergewaltigungsopfer? Warum hat man sie hierher gebracht?«
»Die Vergewaltigung liegt drei Monate zurück. Ein Typ hat sie mit einem Baseballschläger niedergeschlagen und vermeintlich tot liegen lassen. Es sieht nicht so aus, als sollte sie in nächster Zeit entlassen werden. Ihre Familie hat sie hierher gebracht, nachdem das Delray Medical Center das Bett beansprucht hat.«
»Wie alt?«, fragte ich und machte mich auf das Schlimmste gefasst.
»Neunzehn.«
Ich seufzte, und meine Schultern sackten in sich zusammen, als wäre jemand aus großer Höhe darauf gesprungen. »Sonst noch irgendwelche angenehmen Überraschungen?«
»Das Übliche. Das Übliche. Mrs. Wylie hat nach dir gefragt.«
»Schon?«
»Seit fünf Uhr. ›Wo ist meine Terry? Wo ist meine Terry?‹«, imitierte Margot Myra Wylies brüchige Stimme.
»Ich seh gleich nach ihr.« Ich ging den Flur hinunter und blieb noch einmal stehen. »Ist Caroline schon hier?«
»Die kommt erst um elf.«
»Sie leidet doch unter Migräne-Anfällen, oder?«
»O ja. Manchmal machen ihr die verdammten Attacken schwer zu schaffen.«
»Kannst du ihr sagen, dass ich sie kurz sprechen möchte, wenn sie kommt.«
»Probleme?«
»Eine Freundin«, sagte ich und ging den pfirsichfarbenen Korridor hinunter zu Myra Wylies Zimmer.
Ich öffnete die Tür und steckte vorsichtig den Kopf hinein für den Fall, dass die zerbrechliche 87-jährige Frau wieder
eingedöst war, die zusätzlich zu ihrer angeborenen Herzschwäche mit chronischer Leukämie kämpfte.
»Terry!« Myra Wylies Stimme wehte mir von ihrem Bett entgegen und zitterte wie Zigarettenrauch in der Luft. »Da ist ja meine Terry.«
Ich trat an ihr Bett, tätschelte die knochige Hand unter dem weißen Laken und lächelte in die blauen Augen in ihrem grauen Gesicht. »Wie geht es Ihnen heute, Myra?«
»Wunderbar«, sagte sie wie jedes Mal, wenn ich sie fragte, und ich lachte. Sie lachte ebenfalls, doch es klang schwach und ging rasch in ein Husten über.
Trotzdem sah ich in jenen wenigen Sekunden die Spuren der schönen und lebenssprühenden Frau, die Myra Wylie gewesen sein musste, bevor ihr Körper sie langsam und schleichend im Stich ließ. In ihren ausgeprägten Wangenknochen und den sanft geschwungenen Lippen konnte ich das Gesicht ihres Sohnes Josh wiedererkennen. Josh Wylie würde sehr vorteilhaft altern, dachte ich unwillkürlich, als ich
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