Schlaflos in Seoul
winzige Probebecher mit Tee oder Kaffee ausgeben und versuchen, Kunden in ihr Lokal zu locken.
Mit einer ähnlichen Methode versuchen die lauten, schrillen Promoterinnen vor den Kosmetikläden, den Umsatz zu verbessern.
Die Promoterinnen tragen knappe Kostümchen in knalligen Farben und kreischen irgendeinen Werbeslogan ins Mikrophon. Zur Unterstützung
dröhnt manchmal koreanische Popmusik aus einem Lautsprecher. Die Promoterinnen geben jedem Kosmetikproben, der den Laden betritt
– egal ob er dann wirklich etwas kauft oder nicht. In der Regel geht die Strategie auf. Die meisten erwerben zumindest eine
Kleinigkeit. Die Studentinnen der Ewha sind als Konsumentinnen gefragt. Sie sind als ausgehfreudig und kauflustig bekannt.
Der Großteil der koreanischen Studentinnen lebt noch bei den Eltern. Studentinnen, deren Elternhaus zu weit entfernt liegt,
ziehen aber oft mit ausländischen Kommilitoninnen zusammen ins Studentenwohnheim oder in eine Studentenpension. Die Pensionen
werden von meist alternden Zimmerwirtinnen geführt, die Ajumma genannt werden.
Ajumma bedeutet eigentlich »Tante« und ist eine Respektsbezeichnung für verheiratete Frauen. Heute wird der Begriff eher abwertend
verwendet und gilt als Synonym für Unkultiviertheit. Eine Ajumma ist in der Regel eine resolute Dame mittleren oder nicht
mehr genau definierbaren Alters, die eine unmodische kurze Dauerwellenfrisur trägt und meist leicht übergewichtig ist. Viele
Ajummas sind begeisterte Anhängerinnen des Permanent-Make-ups und lassen sich die Augenbrauen zu tiefschwarzen Balken tätowieren
– was ihnen oft einen derart gehässig finsteren Gesichtsausdruck gibt, dass |42| man fast Angst vor ihnen bekommt. In ihrer Pension ist die Ajumma die Königin, die in der Küche residiert. Zwei Mal am Tag
serviert sie selbst gekochte Mahlzeiten. Den Rest des Tages ist sie mit Saubermachen, Hausverwaltung und der Überwachung ihrer
Mieter beschäftigt. Wenn die Ajumma nichts anderes zu tun hat, sitzt sie in der Küche und beobachtet, wer ein und aus geht.
Sie weiß, ob und wann ihre Mieter zum Unterricht gegangen sind, wer regelmäßig verschläft, wer abends lange ausbleibt, wer
oft Besuch bekommt, und sie weiß natürlich auch, welche Besucher häufig erscheinen. Es hat keinen Zweck, etwas vor der Ajumma
verheimlichen zu wollen. Sie findet es sowieso heraus – und kommentiert ihre Beobachtungen mit derbem Humor oft recht uncharmant,
aber meist treffend pointiert.
Die permanente Präsenz der Ajumma ist schon Grund genug, in den Unterricht zu gehen und nicht den ganzen Tag zu verschlafen.
Die meisten Ewha-Studentinnen lernen nach dem Unterricht und dem Mittagessen in der Mensa noch mehrere Stunden in der Bibliothek.
Wenn ich mich auf Sprachprüfungen vorbereiten musste, ging ich wie die koreanischen Studentinnen zum Lernen in die Bibliothek.
Zu Hause schlief ich meistens ein oder sah mir amerikanische Serien oder ›America’s Next Topmodel‹ an, die im koreanischen
Fernsehen in Endloswiederholungen liefen. In der Bibliothek hatte ich keine Ablenkung – keinen Fernseher, keine Ajumma und
keine Mitbewohner, die mich stören konnten. Im Lesesaal der Ewha-Bibliothek war ich immer die einzige Ausländerin. Die koreanischen
Studentinnen schienen Angst vor mir zu haben, denn niemand wagte es jemals, neben mir zu sitzen. Ich hatte einen riesigen
Tisch für mich alleine, auf dem ich meine Bücher, Papiere und Wortkarten ausbreiten konnte. Von dort aus konnte ich auch die
koreanischen Studentinnen in aller Ruhe beobachten.
In Berlin war ich eine fleißige Nutzerin der Staatsbibliothek |43| am Potsdamer Platz gewesen und war eigentlich mit Bibliotheksverhaltensregeln vertraut. Da in Korea aber nahezu alle gesellschaftlichen
Regeln, die ich aus Deutschland gewöhnt war, nichts gelten, hielt ich nichts mehr für selbstverständlich. Ich beobachtete
die Ewha-Studentinnen und versuchte, dadurch den Verhaltenskodex zu erraten.
Zu meiner größten Überraschung stellte ich fest, dass das Bibliotheksleben an der Ewha wesentlich weniger streng war, als
ich angenommen hatte. Manche Studentinnen, die viel Zeit in der Bibliothek verbrachten, hatten sich dort bereits häuslich
eingerichtet. Sie trugen Jogginganzüge und Hausschuhe und machten es sich in jeder Hinsicht bequem. Viele hatten kleine Decken
und Kissen dabei, damit sie gegen Mittag, in den späten Abendstunden oder wann auch immer die Müdigkeit sie
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