Schlaflos in Seoul
überfiel, ein
Schläfchen halten konnten. Die Lesesäle der Bibliothek sind jeden Tag vierundzwanzig Stunden geöffnet. Manche Studentinnen,
die sich auf wichtige Prüfungen vorbereiten mussten, für eine wissenschaftliche Arbeit recherchierten oder eine Projektarbeit
kurzfristig fertigstellen mussten, gingen tagelang nicht nach Hause.
Die Ewha-Bibliothek ist auf Dauergäste eingestellt. Es gibt ein Café, Wasserspender, unzählige Getränkeautomaten und Mikrowellen,
in denen man sich sein mitgebrachtes Essen aufwärmen kann. In einem kleinen Laden kann man alles kaufen, was man zum Überleben
benötigt: Snacks, Fertiggerichte für die Mikrowelle, Kosmetik, Zahnpasta und Zahnbürsten … Einmal beobachtete ich eine Studentin, die sich im Lesesaal die Zähne putzte. Während des Bürstens las sie weiter in ihrem
Lehrbuch. Nach einigen Minuten sprang sie auf und rannte zum Ausspülen zum Waschbecken.
Gegen Abend machten sich die Studentinnen, die nicht vorhatten, die Nacht in der Bibliothek zu verbringen, für ihre Verabredungen
zurecht. Im Lesesaal zogen sie kleine Schminkbeutel aus ihren Taschen und widmeten sich hingebungsvoll |44| ihrem Make-up. Gegen 20 Uhr verließen sie perfekt gestylt den Lesesaal, um Freunde zum Abendessen zu treffen, zu einem geheimen Date, zum Tanzen oder
zum Karaoke zu gehen. Für diejenigen, die traurig und übermüdet zurückblieben, war es nahezu unvorstellbar, dass nur wenige
hundert Meter entfernt Menschen tranken und sangen und lachten. Besonders an Freitagabenden konnte ich den Missmut spüren
und war mir sicher, dass ich nicht die Einzige war, die es unerträglich fand, gleichzeitig jung und vergnügungssüchtig, todmüde
und überfordert zu sein.
Vielleicht war das aber auch nur meine Interpretation. Aus Berlin war ich ein relativ stressfreies Studentenleben gewöhnt
und empfand die koreanischen Lehr- und Lernmethoden als sehr anstrengend. Meine koreanischen Kommilitoninnen dagegen hielten
ihre Studienzeit für die beste Zeit in ihrem Leben. Wahrscheinlich hatten sie Schlimmeres hinter sich und ahnten schon, was
mit dem Eintritt ins Berufsleben auf sie zukommen würde.
Koreanische Schüler müssen vor der Aufnahme an eine Universität eine Zugangsprüfung bestehen, deren Schwierigkeitsgrad für
einen Nicht-Koreaner unvorstellbar ist. Schüler, die sich darauf vorbereiten, schlafen aus Zeitmangel nur vier Stunden pro
Nacht und hören nicht einmal während des Essens auf zu lernen. Meist bringt die Mutter in regelmäßigen Abständen Essen an
den Schreibtisch, während die Unglücklichen ununterbrochen weiterlernen. Zeitungen veröffentlichen Verhaltensrichtlinien für
die Prüfungen. So werden beispielsweise Schülerinnen aufgefordert, kein Parfum und keine hochhackigen Schuhe zu tragen, weil
sie damit männliche Mitschüler ablenken könnten. An den Abenden vor den Prüfungen schließen viele Vergnügungs- und Sporteinrichtungen
wie Tennisclubs früh, um die Schüler nicht vom Lernen abzuhalten. Am Prüfungstag ist Seoul in einem Ausnahmezustand. Der Großteil
der Angestellten geht eine Stunde später ins Büro, damit die |45| Busse und U-Bahnen frei sind für die Prüflinge und damit die Eltern ihre Kinder begleiten können.
Viele erwachsene Koreaner, die sich noch gut an den Stress ihrer Schultage erinnern, versuchen, die Prüflinge mit aufmunternden
Worten zu unterstützen. Diese können jede Unterstützung gebrauchen, denn mit der Hochschulzugangsprüfung ist ein enormer Druck
verbunden. Von dem Ergebnis hängt ab, an welcher Universität man angenommen wird. Das meiste Prestige haben die sogenannten
SK Y-Universitäten – die Seoul-Universität, die Korea-Universität und die Yonsei-Universität. Wer an einer dieser drei angenommen wurde, braucht
sich über seinen späteren Werdegang keine Sorgen mehr zu machen.
Mit der Immatrikulation erhalten die Studenten Zugang zu akademischen Seilschaften und die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen,
die später bei der Arbeitssuche von unschätzbarem Wert sein können. Ein Großteil der politischen Elite Südkoreas besteht aus
Absolventen der SK Y-Universitäten . Ähnlich wie die Absolventen der »Grandes Ecoles« in Frankreich sind die SK Y-Absolventen in der Politik, der Wirtschaft und im Kulturleben Südkoreas tonangebend.
Kein Wunder also, dass ehrgeizige koreanische Eltern ihre Kinder zum Lernen antreiben und sich wünschen, dass ihre Sprösslinge
eine der drei
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