Schlaflos in Seoul
Washington D. C. Andere Studenten kamen, die Klassen wurden neu durchmischt. Ich lernte eisern weiter. Meistens zusammen mit Japanerinnen.
Da ein Großteil der Konversationsübungen im Unterricht aus der Frage: »Wie macht man das bei euch zu Hause?« bestand, lernte
ich mit der Zeit auch einiges über die japanische Psyche. Die Methode mit den Sprechblasen blieb immer die gleiche. Nur führten
die Comicfiguren auf einmal komplexe Dialoge über verlorene Jugendträume, karitative Aktivitäten und die Rezession. Je besser
wir sprachen, desto mehr durften wir improvisieren. In den Dialogübungen präsentierten die Japanerinnen oft groteske Szenarien,
die Ehedramen, Exhibitionisten und den Diebstahl von Damenunterwäsche zum Thema hatten.
Wenn wir nicht über so pikante Themen sprachen, lernten wir neues Vokabular anhand von koreanischer Popmusik, machten komplizierte
Ausspracheübungen, sahen uns Filme und Musicals an und bereiteten zusammen traditionelle Reiskuchen zu.
Die Ewha war lange Zeit der einzige Ort in Seoul, der mir das Gefühl gab, immer willkommen zu sein – der einzige Ort, an dem
mir ständig versichert wurde, dass mein fehlerhaftes Koreanisch »niedlich« war, der einzige Ort, an dem meine kleinen Erfolge
begeistert beklatscht und meine zahlreichen Probleme geduldig angehört wurden. Viele Dialoge, die wir übten, beschäftigten
sich mit Themen wie »Sorgen und Nöte ausdrücken« und »anderen Ratschläge und Trost geben«. Wenn jemand über die bloße Sprachübung
hinausging und von wirklichen Problemen erzählte, fand sich immer eine Lehrerin, die ein offenes Ohr hatte, weil sie alle
wussten, wie sehr wir uns mit der Sprache und der Kultur abmühten. Unsere Übungsdialoge endeten meist mit einem positiven
»Für jedes Problem gibt es eine Lösung, wenn man nur fest daran glaubt«-Unterton und auch die Lieder, die wir lernten, hatten
fast alle ein »Ich habe |39| einen Traum, an den ich glaube« oder ein »Auf uns wartet eine strahlende Zukunft« im Refrain.
Fast alle von uns investierten viel Zeit und Geld in den Sprachunterricht, arbeiteten nebenher in mehr oder weniger gut bezahlten,
meist nervenaufreibenden Jobs, lebten in oft unmöglichen Behausungen, hatten die eine oder andere kulturelle Anpassungsschwierigkeit
und den einen oder anderen Liebeskummer. Wir alle lechzten nach der verständnisvollen, gut gelaunten Ewha-»Ihr-könnt-es-alle-schaffen«-Mentalität
und deswegen waren uns die hohen Studiengebühren jedes Semester jeden einzelnen koreanischen Won wert.
|40| Nonstop in der Bibliothek – Studentenleben in Korea
Die Ewha-Universität ist seit ihrer Gründung im Jahr 1866 eine reine Frauenuniversität und nennt sich stur grammatikalisch
inkorrekt »Ewha Woman’s University«. Das koreanische Bildungssystem ähnelt in vielerlei Hinsicht dem amerikanischen: eine
universitäre Hierarchie, die von Universitäten mit schlechtem Ruf bis zu Eliteuniversitäten reicht, nebeneinander existierende
koedukative Bildungseinrichtungen und getrennt geschlechtliche Schulen, Gruppenaktivitäten in Clubs und Studentenverbindungen,
groß inszenierte Absolventenfeiern.
Die Ewha-Universität gilt als Bildungsanstalt für höhere Töchter und als eine der angesehensten Hochschulen Seouls. Da sie
eine reine Frauenuniversität ist, ist auch das Viertel um den Ewha-Campus herum ganz auf weibliche Bedürfnisse ausgerichtet.
Es gibt unzählige Friseure, Läden, in denen man billige modische Kleidung und Accessoires findet, Cafés und Restaurants, deren
Einrichtung oft so blumig-rosa gestaltet ist, dass sich kein Mann hineinwagen würde. Wochentags tummeln sich dort Gruppen
von jungen Frauen, essen, trinken Kaffee, lernen zusammen, schwatzen fröhlich vor sich hin, beobachten andere Mädchen, die
vorbeikommen, analysieren deren Kleidung, Frisur und eventuelle körperliche Mängel und lästern ausgiebig.
Der fünfminütige Fußweg von der U-Bahn -Station zur Ewha führt an Schuhgeschäften, Sandwichständen, Kosmetikläden und Schnellimbissen vorbei. Fast jeden Tag werden
auf der Straße |41| kostenlose Proben oder Werbegeschenke verteilt. Manchmal gibt es den englischsprachigen ›Korea Herald‹ mit einem koreanischsprachigen
Magazin für Studenten, manchmal gibt es Modezeitschriften – wie die koreanische Ausgabe von ›Cosmopolitan‹ – umsonst. Vor
den Cafés stehen oft – auch bei eisiger Kälte – Mitarbeiter im Freien, die
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