Schlaflos in Seoul
auswendig
konnten und spielten sie dann in Zweierteams an der Tafel vor. Es ging dabei um ganz alltägliche Situationen – einkaufen,
Briefe abschicken, nach dem Weg fragen, Wäsche in die Reinigung bringen …
Alles, was wir im Unterricht lernten, konnten wir auch bald anwenden. Wenn wir einen Koreaner ansprachen, passierte es aber
leider nur zu oft, dass er nicht wie in der Sprechblase vorgesehen antwortete, sondern irgendetwas vor sich hin nuschelte,
das wir beim besten Willen nicht verstanden. Manchmal begriffen wir ein paar Brocken, aber da gebildete Koreaner gerne komplizierte
Grammatik verwenden, die wir nicht kannten, erfassten wir das übergeordnete Thema des Satzes, aber nicht den eigentlichen
Inhalt.
Die koreanische Grammatik ist außerordentlich komplex. Mit indogermanischen Sprachen lässt sich kaum eine Ähnlichkeit finden.
Im Koreanischen gilt nicht die Satzstruktur Subjekt |34| , Prädikat, Objekt, sondern – wie im Japanischen – Subjekt, Objekt, Verb. Das Verb wird nicht im Bezug auf das Subjekt konjugiert, sondern ändert seine Form je nach Höflichkeitsstufe.
Die Höflichkeitsstufen fand ich mehr als einmal »ein bisschen merkwürdig«.
Meine japanischen Kommilitoninnen hatten damit weniger Probleme als ich. Im Deutschen gibt es nur »du« und »Sie«, während
sowohl das Koreanische als auch das Japanische ein kompliziertes Geflecht an höflichen Ausdrucksweisen kennt. Im Koreanischen
gibt es eine joviale Form, die für beste Freunde, nahestehende Familienangehörige, Gleichaltrige und Kinder gilt. Der Honorativ
drückt Achtung vor Respektspersonen wie Professoren, Ärzten und Großmüttern aus oder gewährleistet einen höflichen Umgang
zwischen Verkäufer und Kunden. Eine andere Höflichkeitsform wird fast ausschließlich für Vorträge und Präsentationen verwendet
oder von Männern, die besonders männlich klingen möchten. Es gibt eine freundlich-distanzierte Form, die immer dann passt,
wenn jemand älter ist als man selbst, man ihn nicht gut kennt oder keine andere Höflichkeitsstufe angemessen ist. Während
meines ersten Jahres in Korea hielt ich mich stur an die letzte Form und hoffte inständig, man möge mich verstehen.
Mit meinen Klassenkameraden zu reden, fiel mir leichter als eine Unterhaltung mit Koreanern, weil wir alle auf dem gleichen
Wissensstand waren. Am liebsten mochte ich Konomi, eine 3 1-jährige Grafikdesignerin aus Tokio, die mit einem Koreaner verheiratet war und sich mit ihrer Schwiegermutter auf Koreanisch unterhalten
wollte. Konomi war die ideale Gesprächspartnerin, weil sie über rudimentäres Englisch, eine rasche Auffassungsgabe und eine
Engelsgeduld verfügte. Wenn ich mit Konomi Mittagessen ging, unterhielten wir uns ein bis zwei Stunden auf Koreanisch – oder
dem, was wir dafür hielten – über alles, was uns gerade einfiel und wir irgendwie ausdrücken konnten. Unsere winzigen elektronischen
Wörterbücher |35| blieben während des Essens zur Sicherheit auf dem Tisch. Wenn wir unbekannte Wörter nachsehen mussten, klickte Konomi für
mich auf die Erklärung in Englisch und ich für sie auf die japanische Übersetzung. Wir amüsierten uns dabei bestens und die
Koreaner an den Nebentischen, die unsere Unterhaltung belauschten, ebenso.
Manchmal gingen wir abends mit der ganzen Klasse aus. Wir aßen zusammen und unterhielten uns etwa eine Stunde lang, bis uns
der Gesprächsstoff ausging. Danach besuchten wir eine Karaokebar, die Zimmerchen vermietete, in denen man mit seinen Freunden
ungestört – wenn man von dem Gegröle aus dem Nachbarraum einmal absah – singen konnte. Die acht Japanerinnen trugen sehr schön,
fast professionell japanische Balladen vor, während meine amerikanische Freundin Ponta und ich uns – zur allgemeinen Belustigung
– durch kitschige amerikanische Popsongs quälten. Einmal kam einer unserer Lehrer mit, der als extrovertierter Trunkenbold
bekannt war. Meine japanischen Freundinnen verehrten ihn, weil er passabel Japanisch sprach und als der schönste Lehrer galt
– wobei die Konkurrenz nicht gerade groß war, da nur zwei oder drei Männer im Sprachzentrum unterrichteten.
Unser Lehrer – Mr. Park – kam eine halbe Stunde zu spät zum vereinbarten Treffpunkt. Er trug nur ein weißes Hemd und eine Anzughose, obwohl es
bereits Mitte Dezember war, und entschuldigte sich mit den Worten: »Ich war noch mit ein paar Freunden einen trinken.« Das
war ein
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