Schlaflos in Seoul
sie ja nicht wusste, worauf
sie sich einließ. Beim Essen erzählte mir Hyun-Jung von ihrer Arbeit, unkonzentriert spulte sie einige Anekdoten ab. Ich spürte
ihre Nervosität. Sie wollte los. Sie wollte nicht länger warten. Sie wollte Leute tanzen sehen.
Wir kamen gegen 22 Uhr in der Oi-Bar an. Am Eingang zogen wir, wie alle Gäste, die Schuhe aus und steckten sie in Beutel, die mich an die Turnbeutel
aus meiner Grundschulzeit erinnerten. Auf Socken betraten wir den Raum. Ich überlegte mir, wie phantastisch die Bar in ihrer
ganzen Pracht für Hyun-Jung sein musste, die alles zum ersten Mal sah, aber sie sagte kein Wort. Die meisten guten Tische
waren schon besetzt, aber niemand tanzte. Das käme bestimmt später, versicherte ich Hyun-Jung. Ich begrüßte den DJ, einen
Installationskünstler, den ich kannte, und den Barkeeper.
»Du hast viele Freunde hier«, bemerkte Hyun-Jung.
Ich besorgte uns Getränke – einen Gin Tonic für mich und einen Traubensaft für Hyun-Jung, die mit ihrem Auto gekommen war.
Wir setzen uns an einen Tisch, von dem aus wir die Tanzfläche im Blick hatten. Die Musik dröhnte. Hyun-Jung und ich mussten
uns anschreien, wenn wir uns unterhalten wollten. Hyun-Jung sprach über ihren Beinahe-Freund, den Australier, der überall
in der Welt herumreiste, aber nie nach Korea kam, um sie zu besuchen. Ich wagte es nicht, ihr zu sagen, was das wohl zu bedeuten
hatte, und ließ sie weiterreden. Mein Teil der Unterhaltung bestand weitgehend daraus, ihr zu versichern, dass bestimmt bald
jemand anfangen würde zu tanzen.
Gegen Mitternacht kletterte ein schlaksiger, junger Koreaner auf eine Eisscholle aus Pappmaché und fing an zu tanzen. Ganz |98| alleine. Er trug zerschlissene Jeans, ein weißes Hemd, das aus der Hose hing, und eine dicke schwarze Hornbrille. Alle starrten
ihn an, aber er tat so, als bemerkte er es nicht.
»Willst du näher rangehen?«, fragte ich Hyun-Jung. Sie nickte. Wir setzten uns auf eine Eisscholle, von der aus wir den Tänzer
gut sehen konnten. Wir beobachteten jede seiner Bewegungen. Seine Füße blieben immer auf dem gleichen Fleck, manchmal stampfte
er im Rhythmus der Musik auf. Das Originelle an seinem Tanzstil waren die Armbewegungen. Wie ein Schwimmer führte er gleichmäßige
Kraulbewegungen aus. Ein herausragender Tänzer war er nicht, dafür war sein Tanzstil zu merkwürdig und zu ungelenk, aber Hyun-Jung
bemerkte: »Es gehört viel Mut dazu, vor allen zu tanzen.« Vor allem, wenn man es gar nicht so gut konnte.
Irgendwann geriet der Schwimmer offenbar außer Atem und setzte sich wieder an seinen Platz. Sein Rückzug wirkte wie ein Signal.
Kaum hatte er sich gesetzt, gingen alle Lichter aus. Ein älterer, dicklicher Koreaner in einer lächerlich knappen Motorradkluft,
der in den meisten anderen Clubs ausgelacht worden wäre, erschien mit zwei großen Taschenlampen auf der Tanzfläche. Er fuchtelte
mit den Taschenlampen herum, leuchtete in die eine Ecke der Bar, dann in die andere. Die Musik war lauter, donnernder geworden.
Der Tänzer in Motorradkluft führte eine einstudiert wirkende Choreographie auf, die mich wenig begeisterte. Alle anderen Gäste
schienen die Performance mitreißend zu finden. Ein Mädchen in buntem Ringelkleid und schwarzen Leggins, das einer koreanischen
Schauspielerin ähnlich sah, stürmte barfuß auf die Tanzfläche. Einen Moment überlegte ich, ob es wohl wirklich die Schauspielerin
war, die ich aus dem Fernsehen kannte. Das Mädchen hüpfte auf und ab und winkte seine Freunde heran, die sich bald der Tanzperformance
anschlossen. Alles wirkte ein bisschen inszeniert, aber bald war die ganze Tanzfläche voll. Hyun-Jung sah sich das Spektakel
verzückt an. Sie sagte zu mir: »Du |99| kannst ruhig tanzen gehen, wenn du möchtest, kümmere dich nicht um mich, ich möchte nur zusehen.« Ich wollte nicht tanzen.
Eigentlich tanze ich überhaupt nicht gerne, aber das sagte ich ihr nicht.
Ich weiß nicht, wie lange wir auf der Eisscholle aus Pappmaché saßen. Vielleicht zwei Stunden. Hyun-Jung betrachtete die Szene
mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen, wie sich manche Leute modernes Theater ansehen. Irgendwann sagte sie: »Möchtest
du noch bleiben? Ich würde jetzt lieber nach Hause gehen.«
Wir liefen zusammen ein Stück die Straße hinunter, wo wir ein Taxi für mich suchten. Da die U-Bahn nur bis Mitternacht fährt, sind Taxis das übliche Fortbewegungsmittel der Party-
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