Schlaflos in Seoul
verirren, sind meist auf der Durchreise oder haben in Asien schon
alles andere gesehen und wollen den letzten unbekannten Fleck entdecken. Viele Koreaner halten das weitgehende Desinteresse
des Westens an ihrem Land für beleidigend. Die Obsession, international eine bedeutendere Rolle spielen zu müssen und die
verhassten japanischen Nachbarn endlich einzuholen, bringt einen oft grotesken Nationalismus hervor.
Eine junge koreanische Schauspielerin, die für ihr Modebewusstsein bekannt ist, wurde einmal von einem Fernsehsender für eine
Reisereportage nach London geschickt. Sie berichtete vom Portobello Market, aus Secondhand-Läden und Designer-Boutiquen. Gegen
Ende der Sendung wurde sie in einem Souvenirshop gezeigt, in dem »I love London«- T-Shirts verkauft wurden. Die junge Schauspielerin hielt ein T-Shirt in die Kamera und sagte, sie hätte lieber eines mit der Aufschrift: »I love London, but I love Korea more«. Bei einer ähnlichen
Äußerung wäre eine deutsche Schauspielerin vermutlich öffentlich kritisiert worden.
|90| Wenn man aus Deutschland kommt – aus einem Land mit einer gespaltenen nationalen Identität, wirkt der koreanische Nationalismus
befremdlich. Nationalismus mag eine starke Kraft sein, aber eben auch eine Kraft, die blockierend wirkt, die rückwärtsgewandt
ist und die bewirkt, dass alte Konflikte neu ausgetragen werden. Wegen des übersteigerten koreanischen Nationalismus ist das
Land gefangen zwischen Tradition und Moderne. Dass Korea international nicht bedeutender, erfolgreicher und beliebter ist,
mag nicht nur an China oder Japan und auch nicht nur an der Ignoranz des westlichen Auslands liegen. Es könnte tatsächlich
mit an dem ewig gestrigen nationalistischen Denken liegen, das selbst in den Köpfen der Jungen und der Fortschrittlichen fest
verankert ist.
|91| Mit Hyun-Jung in Hongdae
»Ich muss ins Ausland gehen«, sagte Hyun-Jung, als wir zusammen im Studenten- und Künstlerviertel Hongdae Kaffee tranken.
»In Korea kann ich nicht mehr heiraten. Dafür bin ich zu alt und zu gut ausgebildet.« Bei dieser Feststellung verzog sie keine
Miene. Ich hatte keine Ahnung, ob sie traurig war oder frustriert oder einsam. Hyun-Jung war wie ein Avantgarde-Gedicht: irritierend,
rätselhaft und schwer dechiffrierbar.
Hyung-Jung war eine der Ersten, die ich in Korea kennenlernte. Die Umweltschutzorganisation, für die ich einen Sommer lang
arbeitete, arrangierte, dass jeder Ausländer einen Tag mit einer koreanischen Familie verbrachte, um mit der Kultur vertraut
zu werden. Als Vegetarierin galt ich als schwierig und zickig, weswegen sich keine koreanische Familie fand, die mich aufnehmen
wollte. Ich wurde Hyun-Jung zugeteilt, einer allein lebenden Doktorandin der Biotechnologie an einer Seouler Eliteuniversität.
Als Buddhistin hatte sie Verständnis für vegetarische Ernährung.
Der Tag bei Hyun-Jung verlief angenehm und ruhig. Ein Taifun fegte über Seoul und seine Vororte, es regnete den ganzen Tag.
Wir blieben in Hyun-Jungs Wohnung und sahen fern, obwohl ich kein Wort verstand, aber das machte mir nichts aus, denn ich
war davon überzeugt, dass man durch das Fernsehprogramm eines Landes viel über die Kultur erfahren kann – im Positiven wie
im Negativen.
Später zeigte mir Hyun-Jung Bilder von ihrem Studienaufenthalt in Australien und von einem Australier mittleren Alters |92| , über den sie sagte: »Das ist mein Freund – aber ich weiß gar nicht, ob er mein richtiger Freund ist, weil wir uns so lange
nicht gesehen haben.« Wir sprachen über Bach und Berliner Museen. Traditionell koreanisch war nur der grüne Tee, den wir aus
einem hübschen alten Teeservice tranken, das Hyun-Jung extra für meinen Besuch von ihrer Mutter ausgeliehen hatte.
Ich würde nicht sagen, dass wir uns an diesem Tag besonders nahe kamen oder dass wir danach befreundet waren. Als ich wieder
zurück in Berlin war, schrieben wir uns manchmal E-Mails und ich ließ sie wissen, wenn ich koreanische Romane in Übersetzung las und fragte sie nach ihrer Meinung über den Autor
und sein Werk. Nach kurzer Zeit schlief unsere Korrespondenz ein.
Als ich ein Jahr später nach Korea zurückkam, traf ich sie durch Zufall im Goethe-Institut wieder, wo sie seit einiger Zeit
Deutsch lernte. Sie hatte vage Pläne, nach Deutschland zu gehen, weil in Freiburg interessante Forschung in ihrem Fachgebiet
betrieben wurde und weil sie sich dadurch erhoffte, dem
Weitere Kostenlose Bücher