Schlaflos in Seoul
und Clubgänger – sofern sie sich noch an
ihre Adresse und ihren Nachhauseweg erinnern, was beim exzessiven Alkoholkonsum vieler Koreaner nicht immer selbstverständlich
ist.
»Wie hat es dir gefallen? War es so, wie du es dir vorgestellt hast?«, wollte ich von Hyung-Jung wissen.
»Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt. Ich dachte, es würde stinken und überall würden Zigarettenkippen herumliegen. So
hatte es mir mein Freund immer erzählt. Aber das heute war nett, richtig zivilisiert.«
»Nächstes Mal können wir in einen richtig dreckigen Club gehen, wenn dir das heute zu zivilisiert war.«
»Oh, nein, nein. Ich hatte viel Spaß. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
Hyun-Jung winkte ein Taxi für mich heran und erklärte dem Taxifahrer, wo er mich hinfahren sollte. Ich hätte es ihm selbst
beschreiben können, aber Hyun-Jung hielt es für ihre Pflicht, sicherzustellen, dass ich gut nach Hause kam.
Als ich um drei Uhr die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, bekam ich eine SMS von Hyun-Jung: »Ich hatte wirklich viel Spaß.
Danke, dass du mich mitgenommen hast.« Ans Ende der SMS setzte sie eine Reihe Smileys.
|100| English Mania
Auf der Rolltreppe, die an der U-Bahn -Station »Ewha Woman’s University« zum Bahnsteig hinunterführt, standen vor mir ein paar koreanische Teenager. Ein etwa 1 3-jähriges Mädchen drehte sich zu mir um, starrte mich an und sagte: »Your hair is small.« Dabei machte das Mädchen eine Handbewegung,
mit der es die knappen fünf Zentimeter meiner Haarlänge abmaß. Ich war zu verblüfft, um zu antworten, überlegte mir aber,
warum das Mädchen mich überhaupt ansprach, wenn es offensichtlich schlecht Englisch sprach und mir nichts Vernünftiges mitzuteilen
hatte.
Es sollte nicht bei dieser einen Erfahrung bleiben. Oft wurde ich in der U-Bahn , im Bus, manchmal auch auf der Straße von wildfremden Koreanern auf Englisch angesprochen. Ein typischer Dialog begann mit
»Hello! How are you?«. Auf diese freundliche Annäherung antwortete ich meist ebenso freundlich: »Fine. And you?«
»Fine.« – Damit war die Konversation meist schon beendet, weil die Sprachkenntnisse meines Gegenübers nicht weiter reichten.
In meinen ersten Wochen in Korea hielt ich diese kurzen Unterhaltungen für eine willkommene Abwechslung. Meine Koreanischkenntnisse
waren so schlecht, dass ich erleichtert war, wenn sich die Möglichkeit bot, englisch zu sprechen. Ich mühte mich selbst mit
meinem Koreanischunterricht ab und wusste, wie groß die grammatikalischen Unterschiede zwischen der koreanischen Sprache und
den indogermanischen Sprachen sind. Der Gedanke lag also nahe, dass für |101| Koreaner das Englischlernen genauso schwierig sein musste wie für mich das Koreanischlernen.
Als sich meine Sprachkenntnisse langsam verbesserten und ich mich auf Koreanisch besser verständigen konnte als mancher Koreaner
auf Englisch, änderte sich meine Perspektive. Ich bemerkte, dass die freundliche Begrüßung auf Englisch kein Bestandteil aufrichtiger
Gastfreundschaft war, sondern nur eine Sprachübung. Es stellte sich meist schnell heraus, dass meine Gesprächspartner gar
nicht an einer ernsthaften Unterhaltung interessiert waren, sondern lediglich ein Versuchsobjekt für ihre Englischkenntnisse
suchten. Umgekehrt tat ich mich schwer, Versuchsobjekte für meine Koreanischübungen aufzutun. Koreaner finden es meist anstrengend,
sich mit Ausländern zu unterhalten, deren Koreanischkenntnisse alles andere als perfekt sind, und verlieren schnell die Geduld.
Ältere Koreaner sind der Meinung, dass alle weißen Ausländer Amerikaner sind. Jüngere Koreaner fallen diesem Missverständnis
nicht mehr zum Opfer, sind aber trotzdem überzeugt, die meisten weißen Ausländer würden perfekt Englisch sprechen und somit
als Übungsobjekte in Frage kommen. Manchmal beneidete ich meine französischen Freunde: Sobald sie sich belästigt fühlten von
Koreanern, die sich ihnen auf Englisch näherten, fauchten sie sie auf Französisch an und wurden von da an in Ruhe gelassen.
Ich dagegen schaffte es nie, mich zu wehren, weil ich heimlich stolz darauf war, polyglott zu sein und immer brav in der Sprache
antwortete, in der ich angesprochen wurde.
Einmal beklagte ich mich bei meiner Mitbewohnerin Sheila, dass ich mich in dieser Hinsicht ausgenutzt fühlte. Sheila gab mir
den Ratschlag: »Lass dich doch dafür bezahlen!« Sheila arbeitete schon seit sieben Jahren als
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