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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vera Hohleiter
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aber das
     scheint hier niemanden zu stören. Hier wird niemand nach seinem Erfolg bewertet. Es geht eher darum, ein interessanter Mensch
     und mit seiner eigenen Arbeit zufrieden zu sein. Hongdae |95| ist ein bisschen wie Montmartre im Paris der 20er Jahre oder Greenwich Village im New York der 50er Jahre oder wie Friedrichshain
     in Berlin noch vor ein paar Jahren.«
    Hyun-Jung nickte zustimmend.
    »In Hongdae gibt es so viele tolle Cafés und Bars und Clubs   …«, schwärmte ich.
    »Clubs«, wiederholte Hyun-Jung. »Ich war noch nie in einem Club.«
    »Wirklich?« Ich war zwar auch keine regelmäßige Clubgängerin, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand mit sechsunddreißig
     noch nie in einem Club gewesen war.
    »Ich wollte das immer mal machen, aber an der Uni hatte ich einen Freund, der viel in Clubs ging und mir sagte, das sei nicht
     der richtige Ort für mich. Irgendwie ließ ich mich davon abschrecken.« Hyun-Jung machte einen Sprechpause und starrte vor
     sich hin, dann sagte sie: »Aber einmal möchte ich in einen Club gehen, nicht um zu tanzen, einfach um den anderen zuzusehen
     und die Atmosphäre zu genießen.«
    »In Hongdae gibt es so viele Clubs. Wir können irgendwann zusammen hingehen, wenn du möchtest«, schlug ich vor.
    »Sehr gerne.« Hyun-Jung strahlte und ich war mir bewusst, dass mein Versprechen als verbindlich galt.
    Ich überlegte einige Tage, wohin ich sie mitnehmen könnte. Die meisten Clubs in Hongdae wurden von einem sehr jungen Publikum
     frequentiert. Ich wusste nicht, wie Hyun-Jung reagieren würde auf den Geruch nach Schweiß und Zigarettenrauch, auf Hip-Hop
     und laute koreanische Popmusik, auf grell geschminkte Teenager in winzigen Röckchen, die sich bemühten, älter zu wirken. Die
     Clubs in Hongdae unterschieden sich kaum von Clubs irgendwo anders auf der Welt, aber ich konnte schlecht abschätzen, wie
     schockierend sie wohl auf jemanden wirken mochten, der lieber Bach hörte und viel Zeit in Labors mit Reagenzgläsern verbracht
     hatte.
    Ein paar Tage später kam die Lösung meines Problems per |96| E-Mail . Ich bekam eine Einladung der Oi-Bar zu einer Party. Die Oi-Bar war ein mysteriöser Ort. Die Inneneinrichtung war einem Iglu
     nachempfunden. Landschaften aus künstlichem Eis, das in Wirklichkeit aus Pappmaché hergestellt war, gedämpftes Licht und psychedelische
     Musik machten die Bar so besonders und eindeutig unterscheidbar von allen anderen Etablissements, die ich jemals gesehen hatte.
    Seitdem ich mich mit meiner Freundin Berangère einmal in der Oi-Bar betrunken hatte, waren wir dort bekannt, wurden zu jeder
     Party eingeladen und mussten nie Eintritt bezahlen. Bei den Partys wurde oft auch getanzt. In der Oi-Bar war das Publikum
     gemischt: junge Studenten der Hongik-Universität neben alternden Künstlern und Möchtegern-Künstlern, Koreaner neben Ausländern
     verschiedener Nationalitäten – das Einzige, was alle gemeinsam hatten, war die Selbstinszenierung und die Dramatik ihrer äußeren
     Erscheinung.
    Der DJ, mit dem ich befreundet war, seitdem ich in volltrunkenem Zustand in den Zimmerspringbrunnen der Bar getreten war und
     er mir den Fuß abgetrocknet hatte, war eine der schillerndsten Figuren der Partyszene von Hongdae. Er trug lange, wallende
     Gewänder, buddhistische Gebetsketten als Halsschmuck, auch im Dunkeln eine große Sonnenbrille und eine extravagante Kopfbedeckung
     – meist einen überdimensionalen Schlapphut. Meine Freundin Berangère sagte immer, er strahle die Ruhe eines buddhistischen
     Mönchs aus und nicht die hektische Überheblichkeit anderer DJs. Ich stimmte ihr zu. Ich beschloss, die mysteriöse Oi-Bar sei
     der richtige Ort für Hyun-Jung und fragte sie, ob sie mitkommen wolle. Sie sagte begeistert zu. Als ich sie am Freitagabend
     traf, kam sie gerade von der Arbeit. Nachdem ihr Doktorvater Hyun-Jungs Forschungsergebnisse als seine eigenen ausgegeben
     und veröffentlicht hatte, hatte sich Hyun-Jung desillusioniert von der Wissenschaft abgewandt und arbeitete in einer Privatschule
     bis in die späten Abendstunden als Englischlehrerin. Wir gingen zum |97| Abendessen in ein japanisches Restaurant. Ich mühte mich ab, die glitschigen Udong-Nudeln mit Stäbchen zu essen, und versuchte
     keine Flecken auf mein sorgfältig ausgewähltes Outfit zu bekommen. Ein Besuch in der Oi-Bar verlangte immer eine besondere
     Garderobe. Hyun-Jung war ganz in Schwarz erschienen, was ihr vermutlich am passendsten vorkam, weil

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