Schlaflos in Seoul
gesellschaftlichen Druck zu entkommen, der in Korea auf Singles über
dreißig lastet.
»Die koreanischen Männer widern mich an«, fuhr Hyun-Jung fort und rührte in ihrer Kaffeetasse. »Es wundert mich wirklich,
dass du ausgerechnet mit einem Koreaner zusammen bist.«
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte. »Viele Männer mögen intelligente Frauen nicht oder fühlen sich
von ihnen eingeschüchtert. Das ist in Deutschland auch nicht anders«, sagte ich und versuchte, die Drastik von Hyun-Jungs
Aussage abzumildern.
»Die koreanischen Männer sind widerlich, unkultiviert und stockkonservativ. Ich bin jetzt sechsunddreißig, ich habe Sommersprossen
und einen Doktortitel. Eine unattraktivere Kombination gibt es für koreanische Männer gar nicht. Ich bin für sie ein Nichts.
Ich bin Luft. Zu dir sind sie vielleicht nett, |93| weil du jünger bist und exotisch als Ausländerin, aber glaub mir, die koreanischen Männer sind schlecht. Und hässlich sind
sie meistens obendrein. Neulich hatte ich eine Verabredung mit einem Mann, der etwas älter war als ich, glatzköpfig und durchschnittlich
aussehend. Er hatte nicht einmal eine gute Universitätsausbildung. Obwohl er in jeder Hinsicht weit unter meinem Niveau war,
habe ich mich auf die Verabredung mit ihm eingelassen. Und weißt du, was er mir am Ende des Abends sagte? Ich sei ihm zu alt
und zu unattraktiv. Das sagte der Richtige! So ein widerlicher Kerl!«
Hyun-Jungs Offenheit überraschte mich immer wieder. Informationen dieser Art hätte ich vielleicht meiner Schwester oder einer
meiner besten Freundinnen in Berlin mitgeteilt, aber nicht jemandem, den ich eigentlich kaum kannte. Hyun-Jung und ich trafen
uns in unregelmäßigen Abständen, manchmal sahen wir uns monatelang nicht. Ehrlich gesagt, hätte ich es auch nicht verkraftet,
sie häufiger zu sehen. Ihre radikale Negativität faszinierte mich zwar, deprimierte mich aber auch für den Rest des Tages.
Wir hatten sicher nicht die Art von Freundschaft, die normalerweise den Austausch intimer Informationen einschließt. Ich vermutete,
dass Hyun-Jung mir diese Geschichten erzählte, weil ich als Ausländerin eine andere Perspektive auf ihre Probleme hatte und
weil sie mit ihren verheirateten koreanischen Freundinnen nicht in dieser Offenheit reden konnte.
Ich griff den banalsten Teil ihrer Hasstirade gegen koreanische Männer auf, weil ich die Unterhaltung auf eine unverfänglichere
Ebene zurückführen wollte: »Gelten Sommersprossen in Korea als hässlich?«
»Natürlich.«
»In Europa finden wir Sommersprossen niedlich. Ich finde deine Sommersprossen hübsch.«
»Ich finde meine Sommersprossen hässlich. Jeder findet sie hässlich. Wenn man in Korea viele Sommersprossen hat, gehört |94| man automatisch zu den Menschen, die wenig Glück im Leben haben werden.« Mir fiel ein, dass alle Koreanerinnen mit Sommersprossen,
die ich kannte, mit ausländischen Männern liiert waren.
»Aber nur weil du Sommersprossen hast, wertet dich das doch nicht als Mensch ab«, sagte ich.
»In Korea schon. Ich merke, wie mich die Leute in der U-Bahn ansehen mit einer Mischung aus Ekel und Mitleid, wie eine Behinderte.«
»Lass dich von solchen Leuten nicht beeinflussen. Ich finde, du bist ganz besonders, ganz anders als andere Koreanerinnen.«
Damit wollte ich ihr nicht schmeicheln, ich meinte es ernst. Ich kannte so viele koreanische Mädchen, die mir gelangweilt
und desinteressiert vorkamen, die sich nur für Make-up, Mode und ihre Louis-Vuitton-Taschen begeisterten, die ständig in der
Öffentlichkeit, auch bei Tisch, ihre Lippen nachzogen und mit denen eine vernünftige Unterhaltung undenkbar war. »Und ich
finde dich auch hübsch.« Mit ihren sechsunddreißig Jahren sah Hyun-Jung gut zehn Jahre jünger aus. Sie war klein und zierlich
und hatte ein schmales, intelligentes Gesicht, das sich so sehr von den Gesichtern vieler anderer Mädchen unterschied, aus
deren stark geschminkten Augen die bloße Leere blickte.
Hyun-Jung fühlte sich offensichtlich geschmeichelt und beruhigte sich. Ich musste gehen, ich wollte zu einer Lesung im Goethe-Institut
und war schon spät dran. Hyun-Jung begleitete mich zur U-Bahn .
»Ich mag Hongdae«, sagte ich. »Es ist so anders als der Rest von Seoul. Die Leute sind irgendwie entspannter. Die meisten
Künstler, die hier leben, haben noch keinen Erfolg und sind noch nicht bekannt genug für die Galerien in Insadong,
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