Schlaflos in Seoul
unterrichten. Meine Lehrerfahrung beschränkte sich auf Nachhilfestunden in Englisch und Französisch, die ich als Gymnasiastin
gegeben hatte, und einen deutsch-chinesischen Sprachaustausch – wobei weder mein rudimentäres Chinesisch, noch das schon sehr
gute Deutsch meiner Sprachpartner erkennbare Fortschritte gemacht hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich eine gute Lehrerin
abgeben würde, aber irgendwann gab ich dem Drängen einiger koreanischer Mütter nach und erklärte mich einverstanden, ihren
Kindern Englischunterricht zu geben.
Meine ersten Schüler waren zwei Geschwister – ein 7-jähriges Mädchen und ein 1 0-jähriger Junge. In der ersten Stunde machte ich einen kurzen Test, um das Sprachniveau abschätzen zu können. Ich wollte wissen, wie
viele Adjektive die Kinder kannten, und bat das kleine Mädchen, die Persönlichkeit ihrer Mutter zu beschreiben. An der gleichen
Frage war ich einmal selbst in einer mündlichen Koreanischprüfung an der Ewha gescheitert. Ich kannte nicht genügend Adjektive
und hatte stark vereinfachend gesagt: »Meine Mutter ist lustig, sie liest gerne Bücher und trinkt gerne Kaffee.« Meine Lehrerin
hatte sich damals vor Lachen ausgeschüttet. Meine Englischschülerin aber druckste herum. Schließlich sagte sie: »Meine Mutter
arbeitet sehr hart und sie will, dass mein Bruder und ich die Besten in der Schule sind.« Ich wusste nicht, was ich dazu sagen
sollte, und fragte sie: »Und dein Vater? Wie ist dein Vater? Ist er lustig?« Ich hatte ihren Vater kennengelernt und fand
ihn recht amüsant. Sie antwortete: »Mein Vater ist nicht lustig. Ich weiß gar nicht, wie mein Vater ist. Entweder arbeitet
er oder er sitzt zu Hause vor dem Fernseher.« Eine übertrieben ehrgeizige |105| Mutter und ein Vater, der nie ansprechbar ist … Das Mädchen tat mir ein bisschen leid, aber solange ich als Nachhilfelehrerin arbeitete, musste ich mir immer wieder vor
Augen führen, dass meine Aufgabe nur darin bestand, Englisch zu unterrichten, und nicht, mich in die familiären Verhältnisse
meiner Schüler einzumischen.
Die Konstellation ehrgeizige Mutter und abwesender Vater ist in koreanischen Familien keine Seltenheit. Vor allem in wohlhabenden
Familien hat der Vater meist einen hochbezahlten, anstrengenden Job, der den Großteil seiner Zeit beansprucht. Die Mutter
koordiniert die Erziehung der Kinder. Viele koreanische Frauen geben nach der Hochzeit ihren Beruf auf, weil Kindererziehung
als Vollzeitbeschäftigung gilt. Die Mutter meiner ersten beiden Englischschüler erzählte mir, dass für den Jungen nach der
Schule noch zusätzlicher Mathematikunterricht, Fußball, Taekwondo und Klavierstunden auf dem Programm standen. Seine Schwester
konzentrierte sich auf den Englischunterricht – was sich offenbar auszahlte, denn sie sprach deutlich besser Englisch als
ihr drei Jahre älterer Bruder. Sie erhielt jeden Tag Englischunterricht in der Schule, drei Mal in der Woche in einem Nachhilfeinstitut
und einmal wöchentlich meine Privatstunden. Zusätzlich lernte sie Klavier spielen und hatte Ballettunterricht. Ausgehend von
dem Betrag, der mir monatlich gezahlt wurde, schätzte ich, dass diese Familie monatlich pro Kind umgerechnet 1000 Euro für zusätzlichen Unterricht ausgab. Diese Familie ist kein Einzelfall. Koreaner sind bereit, in die Erziehung ihrer Kinder
viel Geld zu investieren. Die Aufgabe der Mutter ist es in den meisten Fällen, die Kinder von Schule zu Schule, von Termin
zu Termin zu fahren.
Manche Zehnjährigen haben einen Terminplan, der dem eines Topmanagers in nichts nachsteht. Als ich später andere Kinder unterrichtete,
erzählte mir ein Mädchen, dass seine Zeit jeden Tag von acht Uhr morgens bis neun Uhr abends komplett |106| verplant war mit Unterricht und außerschulischen Aktivitäten. Als wir einmal über Freizeit und Hobbys sprachen, erzählte ich,
dass ich mit zehn Jahren den ganzen Nachmittag zu meiner freien Verfügung gehabt hatte. Meine Schülerin wollte es mir nicht
glauben. Eine Mutter erklärte mir einmal, selbst wenn sie ihren Kindern mehr Zeit zum Spielen zugestehen würde, könnten sie
nicht mit anderen Kindern spielen, sondern müssten den Nachmittag alleine verbringen – schließlich wären die anderen Kinder
ja alle in Nachhilfeschulen.
Koreanische Familien muten nicht nur ihren Kindern viel zu, auch die Eltern bringen große Opfer. Mein Koreanischlehrer Mr. Park erzählte einmal im
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