Schlaflos in Seoul
Englischlehrerin – zuerst in
Japan, dann in Korea – und bekam für eine Stunde Unterricht 50 000 Won. Lehrer mit weniger Unterrichtserfahrung konnten mit mindestens 30 000 Won rechnen – was immer noch |102| ein ansehnlicher Stundenlohn war. Es machte in den meisten Fällen auch keinen Unterschied, ob man Englisch als Muttersprache
oder als erste Fremdsprache gelernt hatte. Solange man fließend Englisch spricht, hat man in Korea ein sicheres Einkommen.
Der Großteil der erwachsenen Koreaner hat schlechte Englischkenntnisse. Wenn das im koreanischen Fernsehen thematisiert wird,
findet sich aber immer jemand, der darauf hinweist, dass die verhassten Japaner noch schlechter Englisch sprechen. Auch wenn
mit diesen nationalistischen Kommentaren der eigene Makel schöngeredet werden soll, sind sich die meisten Koreaner ihres Mankos
bewusst. Erwachsene Koreaner investieren viel Geld und den Großteil ihrer Freizeit in Englischunterricht. In den frühen Morgenstunden
vor der Arbeit oder nach der Arbeit bis spät in die Nacht lernen Koreaner unregelmäßige Verben, vertrackte Konjunktivsätze
und idiomatisch korrekte Ausdrucksweisen.
Manche große Firmen leisten sich einen eigenen Englischlehrer, der täglich im Konferenzraum der Firma Stunden gibt, oder schicken
ihre Angestellten auf einen mehrwöchigen Intensivkurs. Sheila arbeitete einen Sommer lang als Englischlehrerin für LG, wurde
dafür sehr gut bezahlt, bemerkte aber, dass sie sich jeden Won hart erarbeitet hatte. Bei ihrer Klasse handelte es sich um
Mitarbeiter kurz vor der Pensionierung, die so hoffnungslos schwer von Begriff waren, dass von Lernerfolg keine Rede sein
konnte. Sheilas Aufgabe war es vor allem, ihre Aussprache zu korrigieren.
»Stell dir mal vor, was das für ein Spaß ist, einer Horde älterer Herren zu erklären, dass ihre Zungenstellung falsch ist!«,
erzählte sie mir. »Ich war tagelang damit beschäftigt, auf ihre Zungen zu starren und die korrekte Stellung vorzumachen. Und
dann bekamen sie es doch nicht richtig hin. Es war zum Verzweifeln!«
Wie die älteren Herren von LG werden viele koreanische |103| Angestellte von ihrem Arbeitgeber dazu gedrängt, ihre Englischkenntnisse zu verbessern. Andere gehen freiwillig in den Englischkurs
aus Angst vor Arbeitsplatzverlust und dem erbarmungslosen Wettbewerb auf dem koreanischen Arbeitsmarkt. Der Druck, die eigenen
Qualifikationen zu perfektionieren, ist hoch. Streng sind auch die Einstellungskriterien. Ein Universitätsabsolvent benötigt
im Durchschnitt eineinhalb Jahre, bis er eine feste Stelle findet. Diese Wartezeit wird von den meisten mit Weiterbildung,
oft in Form von Englischkursen, überbrückt. Da koreanische Firmen sehr an geschäftlichen Beziehungen vor allem mit dem westlichen
Ausland interessiert sind und die wichtigste Geschäftssprache nun einmal Englisch ist, werden von Berufseinsteigern sehr gute
Englischkenntnisse erwartet.
Ein wesentliches Kriterium bei der Auswahl von Bewerbern um eine freie Stelle spielt das TOEI C-Ergebnis . Da Koreaner bevorzugt amerikanisches Englisch lernen, gilt der amerikanische Sprachtest TOEIC als Standardtest zur Überprüfung
der Englischkenntnisse. Wer kein gutes TOEI C-Ergebnis vorweisen kann, muss damit rechnen, dass seine Bewerbungsunterlagen in den Personalabteilungen der großen Firmen – egal wie
gut die sonstigen Qualifikationen sein mögen – sofort im Papierkorb landen. So wichtig gute Englischkenntnisse für den internationalen
Handel sein mögen, so absurde Ausmaße nimmt die obsessive Fixierung auf ein gutes TOEI C-Ergebnis an.
Der als »English Mania« titulierte Trend ist in Korea altersübergreifend. Nicht nur Angestellte, Arbeitssuchende und Studenten
quälen sich mit englischer Grammatik und Ausspracheübungen. Auch Kinder ab fünf Jahren lernen in Korea im Kindergarten und
später in der Grundschule, in Nachhilfeschulen und oft auch noch zusätzlich zu Hause mit Privatlehrern Englisch. Bei den Kleinsten,
die sehr aufnahmebereit sind und schnell lernen, zeigt der Englischdrill die größten Fortschritte |104| . Während die meisten erwachsenen Koreaner – trotz teurer und zeitaufwendiger Englischkurse – sich mit englischer Konversation
immer noch schwertun, spricht der Großteil der 1 0-jährigen Kinder fließend Englisch.
Da ich im Gegensatz zu Sheila wenig Erfahrung als Lehrerin hatte, traute ich es mir nicht zu, gleich eine ganze Klasse zu
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